Postzustellung nach einem Atomkrieg

Das Argument. 1983

In den USA lie­gen schon seit län­ge­rem in allen Post­äm­tern — außer in den kleins­ten — 2.000 Post­kar­ten (Mus­ter­vor­druck 810) bereit. Die Post­amts­vor­ste­her sind ange­wie­sen, dem Ver­sand und der Aus­lie­fe­rung die­ser Post­kar­ten Vor­rang ein­zu­räu­men. Eine Gebühr wird nicht erho­ben. Auf der Rück­sei­te wer­den die Emp­fän­ger der Kar­ten ange­wie­sen, unmit­tel­bar nach der Eva­ku­ie­rung oder dem Angriff die Kar­te an »alle Per­so­nen zu schi­cken, die um Ihre Sicher­heit besorgt sein könn­ten«. Der US-Post­dienst weist dar­auf hin, daß die Kar­ten nicht nur in Post­äm­tern, son­dern auch an Zivil­ver­tei­di­gungs-Regis­trie­rungs­punk­ten unent­gelt­lich erhält­lich sind — und daß jedem eine Stra­fe droht, der sie für pri­va­te Zwe­cke nutzt, um die Post­ge­bühr zu spa­ren. Zusätz­lich gibt es noch Post­kar­ten für »Not­stands-Adres­sen­än­de­run­gen« (Mus­ter­vor­druck 909); und zwar jeweils für »Fir­men, Insti­tu­tio­nen, Orga­ni­sa­tio­nen, Behör­den usw.«, »männ­li­che Per­so­nen«, »unver­hei­ra­te­te Frau­en«, »ver­hei­ra­te­te Frau­en«, »ver­hei­ra­te­te Frau­en, die den Namen ihres Man­nes nut­zen« sowie für »ver­stor­be­ne Per­so­nen«. Im letz­ten Fall wird die Kar­te vom »Für­sor­ge­per­so­nal« aus­ge­füllt, falls die Vor-Not­stands­adres­se bekannt ist — das jeden­falls ist auf der Kar­te ver­merkt.

Titelbild Argument 141

Wie die Kar­ten nach einem Atom­an­griff auf die USA die um die Sicher­heit der Absen­der besorg­ten Emp­fän­ger errei­chen sol­len — dar­über gibt es auch Vor­stel­lun­gen. Die Post­äm­ter in den USA sind ent­spre­chend der Wahr­schein­lich­keit, in einem Atom­krieg zer­stört zu wer­den, geord­net wor­den. Die Auf­ga­be soll von dem jeweils noch vor­han­de­nen rang­höchs­ten Post­amt über­nom­men wer­den. Auf den Ein­wand eines Kon­greß­man­nes im zustän­di­gen Aus­schuß des Reprä­sen­tan­ten­hau­ses im ame­ri­ka­ni­schen Kon­greß, daß es wohl gera­de die Post­äm­ter in länd­li­chen Gegen­den sei­en, die künf­ti­gen Haus­halts­kür­zun­gen zum Opfer fal­len dürf­ten, bemerk­te der zustän­di­ge Post­mann: das füh­re die Dis­kus­si­on auf Abwe­ge. Eine häu­fi­ge Ant­wort auf boh­ren­de Rück­fra­gen von Abge­ord­ne­ten war: »Das weiß ich nicht«. Oder: Natür­lich könn­ten Post­kar­ten oder ande­re Post nur aus­ge­lie­fert wer­den, wenn es nach einem Atom­krieg noch einen Post­dienst gebe. Aber zu beur­tei­len, ob das mög­lich sei, sei­en sie nicht kom­pe­tent. Sie hät­ten den Auf­trag erhal­ten — schon in den fünf­zi­ger Jah­ren —, den Post­dienst für die Zeit nach einem Atom­krieg zu pla­nen. Sie gestan­den ein, daß die Pla­nung eigent­lich nur Sinn habe, wenn es nur zu einem »begrenz­ten« Atom­krieg kom­me; wenn es gelän­ge, durch recht­zei­ti­ge »Ver­gel­tungs­schlä­ge« die Wirk­sam­keit des sowje­ti­schen Atom­an­griffs zu begren­zen. Meh­re­re hun­dert Sei­ten ist das zuletzt 1981 über­ar­bei­te­te Pla­nungs­do­ku­ment jetzt stark.

Pla­nun­gen für die Zeit nach dem Atom­krieg sind zur all­täg­li­chen Ver­wal­tungs­rou­ti­ne gewor­den. Zwar sei er über­zeugt, ver­si­cher­te zur Zeit der Anhö­rung des US-Post­diens­tes im letz­ten Jahr US-Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Wein­ber­ger, daß die USA einen Atom­krieg nicht »gewin­nen« könn­ten, aber: »Wir pla­nen selbst­ver­ständ­lich, nicht geschla­gen zu wer­den.«

Die Vor­gän­ge machen Angst. Doch daß die »Bom­be« Angst macht, ver­stellt leicht den Blick auf Zusam­men­hän­ge. Mary Kal­dor schreibt in die­sem Heft1Krieg und Kapi­ta­lis­mus. In: Das Argu­ment, 25(141)1983, 707–724: »Es kann sein, daß unse­re Furcht vor der Bom­be uns zu Opfern (eines) Feti­schis­mus macht, unfä­hig, eine Absicht in dem Gesell­schafts­sys­tem zu erken­nen, wel­ches sie her­stellt — und uns des­halb den wil­den Trieb­kräf­ten des moder­nen Mili­ta­ris­mus gegen­über hilf­los macht.« Aber nicht nur die »Furcht vor der Bom­be« kann für die Poli­tik blind machen, die sie her­vor­bringt. Die ame­ri­ka­ni­sche Regie­rung hat in den letz­ten Jah­ren allen Ver­su­chen »den Krieg erklärt, Regie­rungs­po­li­tik öffent­li­cher Kon­trol­le gegen­über zu öff­nen«. »Orwells 1984«, schreibt MIT-Pro­fes­sor Ber­nard T. Feld im »Bul­le­tin of the Ato­mic Sci­en­tists«, »ist schon längst Wirk­lich­keit, egal, was der Kalen­der sagt«. Die Pla­nun­gen für den Atom­krieg und die Zeit danach, wie sie heu­te all­täg­lich gewor­den sind, neh­men vie­les vor­weg. Und sie erfol­gen in einer Spra­che — in den USA »Nuke­speak« genannt —, die nichts mehr beim Namen nennt. Eine Atom­bom­ben­ex­plo­si­on wird zum »ato­ma­ren Ereig­nis«, die Pla­nung des Ein­sat­zes von Atom­bom­ben wird in mili­tä­ri­schem Schu­lungs­ma­te­ri­al zum »Schnü­ren von Atom­pa­ke­ten« usw.: Sich davon nicht blen­den zu las­sen, die »Absicht in dem Gesell­schafts­sys­tem zu erken­nen«, wel­ches die­se Poli­tik her­vor­bringt, tut not.


Ver­öf­fent­licht in: Das Argu­ment. Zeit­schrift für Phi­lo­so­phie und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 25(141)1983, 637–638

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    Krieg und Kapi­ta­lis­mus. In: Das Argu­ment, 25(141)1983, 707–724