Weitere Aussichten: Kriege weltweit

Das Argument. 1983

1977 kamen Fol­ker Frö­bel, Jür­gen Hein­richs und Otto Kreye in ihrer Unter­su­chung der neu­en inter­na­tio­na­len Arbeits­tei­lung zu dem Schluß: »Unter die­sen Umstän­den kann man sich kaum der Schluß­fol­ge­rung ent­zie­hen, daß nicht orga­ni­sier­te poli­ti­sche Akti­on auf der Tages­ord­nung einer Welt steht, die vom Pro­zeß welt­wei­ter Ver­wer­tung und Akku­mu­la­ti­on des Kapi­tals bestimmt ist, son­dern Hun­ger­re­vol­ten, sozia­les Auf­be­geh­ren und Krieg in vie­len Tei­len der Welt.«

Was damals über­zo­gen schien, hat sich seit­dem nur zu sehr als zutref­fend erwie­sen. Die Bedeu­tung mili­tä­ri­scher Gewalt in den inner­staat­li­chen wie zwi­schen­staat­li­chen Bezie­hun­gen wächst. Dar­an wird sich abseh­bar in den nächs­ten Jah­ren nichts ändern. Beson­ders in der Drit­ten Welt wer­den Krie­ge noch all­täg­li­cher wer­den, als sie es heu­te bereits sind. Die 148 Krie­ge seit 1945, die Ist­van Ken­de gezählt hat, haben in ihrer über­wie­gen­den Mehr­zahl in der Drit­ten Welt statt­ge­fun­den. Und bei mehr als 90 Pro­zent der Krie­ge mit Fremd­be­tei­li­gung waren ent­wi­ckel­te kapi­ta­lis­ti­sche Län­der betei­ligt.

1977 war das Jahr, in dem die USA began­nen, ihre Auf­rüs­tungs­po­li­tik nach dem Viet­nam­krieg auch inner­halb der NATO durch­zu­set­zen. Eine jähr­li­che rea­le Stei­ge­rung der Rüs­tungs­aus­ga­ben um drei Pro­zent wur­de beschlos­sen — aller­dings spä­ter nie voll erreicht. Ein Jahr danach ver­ab­schie­de­te die NATO ihr Lang­fris­ti­ges Ver­tei­di­gungs­pla­nungs­pro­gramm mit einer Per­spek­ti­ve über 1990 hin­aus; bis dahin ein ein­ma­li­ger Vor­gang für die NATO. Hin­ter­grund all die­ser Schrit­te war nicht zuerst die Erwar­tung einer mili­tä­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung in Euro­pa, auch wenn die­ses Kriegs­sze­na­rio zur Recht­fer­ti­gung der Auf­rüs­tung dien­te. Viel­mehr lag ihnen die Erwar­tung von Hun­ger­re­vol­ten, sozia­lem Auf­be­geh­ren und Krie­gen in vie­len Tei­len der Welt, beson­ders im Süden zugrun­de. Der dama­li­ge NATO-Ober­be­fehls­ha­ber und spä­te­re ame­ri­ka­ni­sche Außen­mi­nis­ter Haig 1978 vor dem US-Kon­greß: Es gehe dar­um, das euro­päi­sche Haus mili­tä­risch in Ord­nung zu brin­gen, um mili­tä­ri­sche Gewalt anders­wo wirk­sam zur Gel­tung brin­gen zu kön­nen.

Die Auf­rüs­tung der USA und der NATO seit Mit­te der sieb­zi­ger Jah­re, das läßt sich offi­zi­el­len Doku­men­ten ent­neh­men, ist auf den Nord-Süd-Kon­flikt aus­ge­rich­tet. Die Beto­nung des Ost-West-Kon­flikts, die Ent­de­ckung einer »neu­en sowje­ti­schen Bedro­hung« (so der Titel eines ein­schlä­gi­gen US-Kon­greß­be­richts) ent­springt einer ideo­lo­gi­schen Ver­schie­bung. Sie sucht die Ursa­chen für den Nord-Süd-Kon­flikt in den teuf­li­schen Machen­schaf­ten der UdSSR als natio­nal­staat­li­cher Ver­kör­pe­rung des Kom­mu­nis­mus = des Bösen in der Welt; sie wird gestützt durch poli­tisch-mili­tä­ri­sche und wirt­schaft­li­che Inter­es­sen, deren Durch­set­zung an einen neu­en Kal­ten Krieg gebun­den sind. Die­sem vor­herr­schen­den welt­po­li­ti­schen Hand­lungs­mus­ter fügt sich die Sowjet­uni­on in ihrem Ver­hal­ten fast spie­gel­bild­lich ein, ohne aus ihm aus­bre­chen zu kön­nen (und zu wol­len) jeden­falls solan­ge die tra­di­tio­nel­len poli­tisch-mili­tä­ri­schen und wirt­schaft­li­chen Wege beschrit­ten wer­den.

Kern des Kon­flikts und trei­ben­des Moment der Auf­rüs­tung der USA und der NATO ist die Fra­ge, wel­che Rol­le der Natio­nal­staat USA (und ihm in ant­ago­nis­ti­scher Koope­ra­ti­on bei­geord­net die ein­zel­nen west­eu­ro­päi­schen Natio­nal­staa­ten) in den acht­zi­ger Jah­ren und spä­ter auf dem Welt­markt unter den Bedin­gun­gen der sich gegen­wär­tig durch­set­zen­den neu­en inter­na­tio­na­len Arbeits­tei­lung spie­len wird und kann. Die Mili­tär- und Rüs­tungs­po­li­tik der USA inner­halb der NATO ist dabei das ein­zi­ge ver­blie­be­ne Instru­ment, mit dem die USA ihre hege­mo­nia­len Ansprü­che gegen­über West­eu­ro­pa sichern kön­nen. Die ange­sichts der natio­nal­staat­li­chen Inter­es­sen der USA durch­aus wider­sprüch­li­che Sta­tio­nie­rung neu­er ame­ri­ka­ni­scher Atom­waf­fen in West­eu­ro­pa hat eine ihrer Ursa­chen in dem ame­ri­ka­ni­schen Inter­es­se, die Ent­wick­lung einer eigen­stän­di­gen west­eu­ro­päi­schen Atom­streit­macht wei­ter zu blo­ckie­ren — und damit eine gegen­über // den USA selb­stän­di­ge­re Poli­tik West­eu­ro­pas. Der neue Kal­te Krieg blo­ckiert die Mög­lich­keit, daß ein­zel­ne west­eu­ro­päi­sche Staa­ten durch eine ent­span­nungs­ori­en­tier­te Ost­po­li­tik aus der welt­wei­ten Stra­te­gie der USA aus­bre­chen, in der mili­tä­ri­sche Gewalt beson­ders gegen­über dem Süden eine zen­tra­le Rol­le spie­len soll.

Hier­bei wird Rüs­tungs­kon­troll­po­li­tik, so wie sie in den letz­ten 25 Jah­ren ent­wi­ckelt und betrie­ben wor­den ist, nur dann eine Chan­ce haben, wenn sie die­ser Stra­te­gie dient. Ein denk­ba­res Bei­spiel hier­für wäre ein Abkom­men über die Begren­zung des Rüs­tungs­exports in die Län­der des Südens; also gleich­sam eine Neu­auf­la­ge des ato­ma­ren Nicht­wei­ter­ver­brei­tungs­ver­tra­ges, der ähn­li­chen herr­schaft­li­chen Moti­ven ent­sprang. Abrüs­tungs­po­li­tik mit dem Ziel einer all­ge­mei­nen Abrüs­tung hat unter den gegen­wär­ti­gen und abseh­ba­ren poli­ti­schen, sozia­len und wirt­schaft­li­chen Bedin­gun­gen kei­ne Chan­ce — wie aus­ge­feilt und wohl­mei­nend auch immer die Plä­ne und Vor­schlä­ge sind.

Gleich­zei­tig wer­den die sozia­len Kos­ten des Rüs­tens stei­gen, wächst die Gefahr eines welt­wei­ten Atom­kriegs. Die not­wen­di­ge Zuord­nung von mili­tä­ri­scher Gewalt und poli­ti­schen Zie­len (Krieg als Fort­set­zung der Poli­tik — und nicht ihr Ende) wird schwie­ri­ger: Die Rüs­tungs­prei­se stei­gen lang­fris­tig in einer Wei­se, daß abseh­bar ist, daß eine wei­te­re Gene­ra­ti­on lang die­ses Rüs­ten nicht finan­zier­bar ist; die Zer­stö­rungs­kraft der Waf­fen wird ins­ge­samt grö­ßer, auch wenn die Wir­kun­gen der ein­zel­nen Waf­fen bes­ser kon­trol­liert wer­den kön­nen, wie es z.B. auch bei Atom­waf­fen der Fall ist; die rüs­tungs­tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lung schränkt die poli­ti­schen, mensch­li­chen Hand­lungs­spiel­räu­me in mili­tä­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen durch den Ein­satz von Com­pu­tern und ähn­li­chen Tech­no­lo­gien ein. Die­se Ent­wick­lun­gen machen irra­tio­na­le Vor­gän­ge — »irra­tio­nal« ver­stan­den in der Per­spek­ti­ve ratio­na­ler herr­schaft­li­cher Nut­zung mili­tä­ri­scher Gewalt — wahr­schein­li­cher: Mensch­li­che Fehl­kal­ku­la­tio­nen, etwa daß ein Atom­krieg begrenz­bar, kon­trol­lier­bar sein könn­te, gehö­ren eben­so hier­her, wie die Mög­lich­keit, daß sich das Atom­waf­fen­ar­se­nal auf­grund sei­ner Abhän­gig­keit von tech­ni­schen Kon­trol­len selbst zur Zün­dung bringt und einen Atom­krieg aus­löst.

Das ist die Logik der aktu­el­len rüs­tungs­po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen, die sich durch alle Wider­sprü­che und gegen alle Wider­stän­de durch­zu­set­zen droht: Krie­ge welt­weit.


Ver­öf­fent­licht in: Das Argu­ment. Zeit­schrift für Phi­lo­so­phie und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 25(142)1983, 797–798