Das Argument. 1989
“Ach, schenke mir auf meinem letzten Gang Erkenntnis,
das Wissen, schlimmstes Leid ist gut für den, der Hoffnung hat.“
Abraham Sutzkewer, Die letzte Stunde (1943)
Am 10. Oktober sind es fünfzehn Jahre her, daß Joseph Wulf in Berlin seinem Leben ein Ende setzte. Geboren 1912 in Chemnitz, wuchs der polnische Jude Joseph Wulf in Krakau auf, studierte Judaistik und Landwirtschaft und veröffentlichte 1939 in Warschau sein erstes Buch: “Kritische Miniaturen”, geschrieben in Jiddisch. Er überlebte kämpfend das Krakauer Ghetto und das Vernichtungslager Auschwitz. Sein letztes in Deutschland erschienenes Buch sind die 1964 veröffentlichten »Yiddish- Gedichte aus den Ghettos 1939–1945«. Die damals angekündigten »Tagebücher«, »Die Geschichte des Chassidismus« und »Solidarität und Hilfe während des zweiten Weltkriegs« fanden ebensowenig wie andere Vorhaben in Deutschland einen Verleger. Anfang August 1970 schrieb Wulf in einem Brief: »Wie Ihnen bekannt ist, habe ich bis heute 18 Publikationen über das Dritte Reich veröffentlicht. (…) Ich habe vor und während der Arbeit an diesen Büchern Vorschüsse von den Verlagen erhalten, um diese Bücher überhaupt schreiben zu können. Bücher dieser Art haben nur sehr kleine Auflagen und sind für den Verleger wie den Autor ein Defizit-Geschäft … Seit über einem Jahr habe ich kein Einkommen. Nach 25 Jahren Arbeit stehe ich praktisch vor dem Nichts. Mein Thema — das Dritte Reich — ist heute nicht mehr gefragt und nicht aktuell. Ich stehe buchstäblich vor der Frage, wovon ich demnächst leben soll.«
Seine großen Dokumentationen über das »Dritte Reich« und die Juden, dessen Diener, Denker (diese zusammen mit Léon Poliakov) und Vollstrecker, über die Bildenden Künste, die Musik, Literatur und Dichtung, Theater und Film sowie Presse und Funk im »Dritten Reich« sind heute offensichtlich marktgängig: Im Gesamtverzeichnis des Verlags Ullstein werden sie neben den Erinnerungen des REP-Vorsitzenden Schönhuber: »Ich war dabei« in der Rubrik Politik/Zeitgeschichte angezeigt. Der Verlag nutzt die Konjunktur für NS-Themen zum Remake: Seine »Bibliothek zur Zeitgeschichte« startet der Verlag mit den fünf bereits 1984 veröffentlichten und ursprünglich in den sechziger Jahren beim sozialdemokratischen Arani-Verlag, bei S. Mohn und Rowohlt erschienenen Dokumentationen Wulfs zur Kunst und Kultur im Dritten Reich — zusammen mit den Bänden »Die Wüstenfüchse« von Paul Carell und »Hitler« von Joachim C.Fest.
»Wulfs politisches Anliegen«, berichtete Hildegard Brenner, »war vor allem ein moralisch-humanistisches, und in diesen moralischen Fragen war er unerbittlich.« Für ihn hatte die Kollaboration der Deutschen mit dem NS-System, zumal der Intellektuellen, Namen und Adressen, für ihn verschwand die Faschisierung des Subjekts nicht hinter der gesichtslosen Rede von der »nationalsozialistischen Herrschaft über Kunst und Kultur« (Ullstein). »Es ist keine Demokratie«, sagte Wulf 1964 anläßlich der Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille in einem Interview, »wenn Herr Sündermann und ich gleichzeitig veröffentlichen können. Das genügt für Deutschland nicht.« Und zu Ossietzky, dem vor hundert Jahren am 3. Oktober 1889 geborenen: »Offiziell würde er totgeschwiegen. Aber er dürfte hier schreiben, genauso wie die ‘Nation Europa’ erscheinen kann.« Und weiter zum Fehlen des anderen Deutschland, das nach 1945 hätte geschaffen werden müssen: »daß nicht Carl von Ossietzky zu einem Symbol für die Jugend gemacht wird, ist für mich ein Symptom, wie es in der Bundesrepublik aussieht. Man hat das Glück, nach der fasst totalen Kollaboration eines Volkes einen Ossietzky zu haben — und nützt ihn nicht aus.«
Es ist dieses Deutschland, in das er zurückkehren mußte, um den deutschen NS und seine Verbrechen in deutsch für die Deutschen dokumentieren zu können und weil die Dokumente hier liegen; es ist dieses Deutschland, das bis heute nicht die vorhandenen Dokumente zum NS zentral sammeln und der Erinnerung zugänglich machen will, wie es Wulf wünschte; es ist dieses Deutschland, das ihm zur Todesfalle wurde — und ihn heute als Ware vermarktet. Seinem Sohn David schrieb er zwei Monate vor seinem Tod: »Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und alles hatte keine Wirkung.«
Broder, Henryk M., 1981: Wer war Joseph Wulf? In: Frankfurter Rundschau, 24.10., II
Huder, Walter, 1975: Remigration als Todesfalle. In memoriam Joseph Wulf. (Referat während einer
Gedenkstunde im Jüdischen Gemeindehaus zu Berlin.) In: Nachrichtenbrief. Gesellschaft für
Exilforschung, (9–10) 1988, 187–197 (mit Bibliographie der Buchveröffentlichungen)
Levinson, N.Peter, 1988: Dem Andenken der Gerechten. München, 73–77
veröffentlicht:
Rodejohann, Jo: Erinnerung an Joseph Wulf. In: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, 31(177)1989, 797–798