Eine alltägliche Geschichte eigentlich, eine vom sich selbstversorgendem, vom familiär gestützten Überleben Unten in der westfälischen Provinz nach 1945, eine, die reichen Stoff gab für Erzählungen bei gegebenen Anlässen im Familienkreise. Wir Kinder waren nur bei Kaffee und Kuchen dabei, für die Erwachsenen gab es nem Groaten und nem Lütten, die Reden freisetzten, Wörter und Worte, die wir aufschnappten, mehr oder weniger verständig. Geschichten aber auch, das blieb bald hängen, die Fragen aufwarfen, die nicht gestellt werden konnten; Geschichten, die blinde Flecken hatten, die etwas verschwiegen, im Ungefähren ließen. Kinder sind neugierig, versuchen Welten zu verstehen.
Offenbar gab es da etwas nicht zum Erzählen: von vergangenen Jahren und Vorkommnissen, und wenn überhaupt angesprochen, dann geschah es vorzugsweise nur in der Form von Dönekens. Alle wußten offenbar, worüber nicht gesprochen wurde, nicht geredet werden sollte (sie waren ja nur dabei gewesen), niemand gab Butter bei de Fische. So wie über die Tage im April 1945: die Familie(n) lebten dort, wo in letzten Kämpfen des Krieges der Ruhrkessel geschlossen wurde und letzte Kriegsverbrechen geschahen. Und bis heute sind Erzählungen aus und über diese Zeiten, auch im weiteren Verwandtenkreise, häufig der Form und des Inhalts nach noch immer eher Dönekens, wohl aus Gründen. Letztlich herrschte damals (und herrscht nicht selten noch immer1Erst 2020 beschloss der Rat der Stadt, Teil des Kunstprojektes “Stolpersteine” zu werden; 20 Stolpersteine wurden seitdem verlegt, zuletzt im Juni 2023.) Schweigen und Beschweigen. Und Verleugnung, wo die verharmlosende Verkehrung in Dönekens scheiterte. Ein andere Geschichte, nicht hier weiter.
In diese Welt also kehrte mein Vater im Juni 1945 aus dem Krieg in ein ihm fremd gewordenes früheres Zuhause (wie er sicher war auch seine Familie ihm entfremdet, nie lebensweltlich ihr und sie ihm wirklich verbunden), nach Hause zurück. Wohl auch meiner Mutter wegen, nach fast zwanzig der Jungfrau Maria zölibatär verpflichteten Jahren in Italien, dazu gleich. Heimaturlaube von der Front hatten wohl ihr Interesse an dem Schwatten hinter der Säule sonntags in der Dorfkirche geweckt, dem in Sichtweite des Gutshofs im Kotten an der Fernverkehrsstraße zwischen Sauer- und Münsterland, einer früheren Pferdewechselstation aufgetauchten gut Dreissigjährigen. Er kehrte also nicht zurück zu seinen Ordensbrüdern in Turin (und war nicht der einzige Frater, der nach dem Krieg nicht dorthin zurückkam, wie die Ordenschronik berichtet).
Die größte Entfernung zwischen den Lebens- und Arbeitsorten der Familie(n) waren nun wenige Kilometer, manche in Sichtweite, alle fussläufig in einer guten Stunde erreichbar (wir haben als Kinder die Wege dazwischen noch oft gemacht). Auch die Schule in der nahen Stadt, in der mein Vater bald wieder als Volksschullehrer seinen Dienst aufnahm, war nicht weiter weg. Alles das ist eine nicht so besondere Geschichte nach 1945: eine vom Fremdeln, Finden, Wiederfinden, Zusammenfinden, auch in der nahen Verwandschaft, von Brüchen; nicht zu reden von den Kriegserfahrungen der Überlebenden. Meine Mutter wartete wie ihre Schwägerin noch bis in die fünfziger Jahre auf die Rückkehr ihres in Russland vermißten Bruders Franz.
Mein Vater starb 1989, am Tag nach dem Mauerfall. Dass er lange in Italien gelebt hatte, wußte ich. Es gab im Familienalbum ein Foto von ihm an Strand von Catania auf Sizilien, wohl 1942, soweit ich erinnere das einzige von vor 1945. Aber darüber, über die Jahre vor 1945, erzählte er nicht. Schweigen, und wenn überhaupt, dann gab´s nur Dönekes. 1923 musste er mit elf Jahren als Nachgeborener, als Überzähliger seine Familie verlassen: von seinem Lehrer wie seinem Pastor ausgesucht und der Katholischen Kirche anempfohlen, sich in die Nachfolge zu begeben, sich auf ein Leben als Berufener Mariens vorzubereiten, zunächst in der Realschule des Ordens in Recklinghausen, nach 1926 in der Präparandie und im Lehrerseminar der Maristenschulbrüder in Italien. Seine italienischen Jahre von 1926 bis 1943 im faschistischen Turin, wo er ab 1932 als Lehrer, als Frater Bonifacius in einem katholischen Schulorden (so wohl auch geschützt!?) tätig war, dann als Dolmetscher in Belgien und Frankreich zur Wehrmacht eingezogen, zuletzt im Osten, sie waren bis nach seinem Tod in einem schmalen ELBA-Ordner gehütet und versiegelt — auch vor der Familie. Er schwieg und beschwieg, ließ sich nicht ein: Du bist alt genug, Du mußt wissen, was Du tust, sagte er mir, er der Lehrer, der Vater dem Vierzehnjährigen. Fremd zog ich aus, 1966, nach dem Abitur. Er ist mir fremd geblieben. Bis heute offene Fragen, lose Fäden.
Und Michael Göring? Ich kenne ihn nicht. Acht Jahre jünger als ich, in derselben Stadt geboren, auf dasselbe Gymnasium gegangen, keine persönlichen Bezüge, obwohl: Offenbar lebenslang ein Schreibtier (Erich Arendt), beruflich und zuletzt auch literarisch. Sein erster Roman Der Seitänzer erschien 2011, bis heute fünf weitere, sein vierter, Hotel Dellbrück (2018) wurde jetzt zum missing link zwischen uns, für mich, nicht persönlich, lebensweltlich, Erinnerungen verknüpfend: Wir beide nur wenige Jahre zeitverschoben aufgewachsen nahe dem katholisch geprägten Glockenland nördlich der Lippe. Dort, wo bis heute und die Landschaft nach ihr benannt Die Glocke erscheint, die 1880 gegründete Tageszeitung. Dort, wo man der Ems entlang die Glocken vom Dom in Münster hört, wenn man die vom Dom in Paderborn nicht mehr hört. Ein mir vertrautes Döneken.
[…]
»Mit einem feinen Gespür für Sprache schafft es Michael Göring, den Leser in seinen Bann zu ziehen.« Die Glocke
…
- 1