KontorZ — oder erfolgreich Scheitern …

Noch immer auf der Werk­bank,
zuletzt dar­an gewer­kelt im Okto­ber 2025


beob­ach­ten
anno­tie­ren
infor­mie­ren

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ERMÄCHTIGEN
HANDELN

fens­ter öff­nen sich
und schlies­sen wie­der


»Men­schen sind Wort­tie­re«, notier­te Erich Are­ndt: »Das
Schrei­ben beginnt lan­ge vor dem Schrei­ben.«

Sie inter­es­sie­re der Rand der Welt, sag­te Sibyl­le Ber­ge­mann, nicht
ihre Mit­te. Das Nicht­aus­tausch­ba­re sei für sie von Belang:
»Wenn etwas nicht stimmt in den Gesich­tern oder Land­schaf­ten.«

»Jedes Gesicht hat ein Dahin­ter«, beob­ach­te­te Theo­dor Däub­ler.

»Berich­te schrei­ben, nichts Erfun­de­nes. Genau sein. Klei­ne Din­ge
beob­ach­ten, Details. Punk­te.« Das Schrei­ben, wünsch­te Ilse Aichin­ger, müß­te punk­tu­el­ler sein. Sie wäre froh, wenn sie etwas schrei­ben könn­te,
das deut­lich mache, »daß die­se Welt hilfs­be­dürf­tig ist«.

»Sagen Sie Ihm, daß er für die Träu­me sei­ner Jugend soll Ach­tung tra­gen,
wenn er Mann sein wird, nicht öff­nen soll dem töd­ten­den Insek­te gerühm­ter bes­se­rer Ver­nunft das Herz der zar­ten Göt­ter­blu­me – daß er nicht soll irre wer­den, wenn des Stau­bes Weis­heit Begeis­te­rung, die Him­mels­toch­ter,
läs­tert.” trug in Schil­lers Don Car­los der Mar­quis der Köni­gin auf.

»Der Traum ist aus! Der Traum ist aus! Aber ich wer­de alles geben,
daß er Wirk­lich­keit wird«
sang einst Rio Rei­ser.

»Glück hat ja die­sel­be Sprach­wur­zel wie Gelin­gen, wor­in noch der akti­ve Eigen­an­teil im Glücks­be­griff steckt« — notier­te Oskar Negt in sei­ner Abschieds­vor­le­sung, berich­tend von einer frü­hen, »durch Bit­ter­keit gebro­che­nen Glücks­er­fah­rung´, geschul­det sei­ner ´eigen­sin­ni­gen Neu­gier­de«.

“Alles ist Archiv, alles ist im Begriff, Archiv zu wer­den und
in Rauch auf­zu­ge­hen …” notier­te Tho­mas Kling.

“Noch dei­ne Bäu­me, Deutsch­land, wis­sen zu viel” schloss Erich Are­ndt
sei­ne ELEGIE IV. In memo­ri­am Albert Ein­stein.


Zukunfts­Kon­tor | Kon­tor­Zu­kunft | Kon­torZ 

“Weißt du”, sag­te er,
“Jetzt begin­ne ich
viel zu ver­ste­hen von der Welt.
Jetzt könnt´ ich mich gut unter­hal­ten
könn­te den Leu­ten viel erzäh­len.“

Aber es kam kei­ner,
kei­ner woll­te es hören,
kei­ner.

Hen­ryk Beres­ka
Onkel Roman

Als in der ers­ten Hälf­te der neun­zi­ger Jah­re wie­der ein­mal eine beruf­li­che Neu­ori­en­tie­rung ange­sagt war, reif­te die im Jahr­zehnt zuvor von Wis­sen­schafts­lä­den und wis­sen­schafts­jour­na­lis­ti­schen Vor­ha­ben ange­reg­te Idee eines Kon­torZ: eines Kon­tors Zukunft, eines Zukunfts­kon­tors immer mehr zu einem neu­en, dies­mal eigen­stän­di­gen Pro­jekt­ver­such: Wie kann Wis­sen­schaft, Wis­sen, wie kön­nen Infor­ma­tio­nen so in ver­ständ­li­che All­tags­spra­che über­setzt, wie kön­nen sie so orga­ni­siert wer­den, dass sie dem Grun­de nach alle Men­schen zu ver­ant­wort­li­chem, ratio­na­len gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Han­deln befä­hi­gen und ermäch­ti­gen kön­nen. Inklu­si­on oder Exklu­si­on. Teil­ha­be oder Aus­schluss.

Es war und ist noch immer ein unge­lös­tes prak­ti­sches Pro­blem orga­ni­sier­ter, sich orga­ni­sie­ren­der, ver­be­ruf­lich­ter, eige­ne For­men der Ver­stän­di­gung, der Spra­che her­aus­bil­den­der wis­sen­schaft­li­cher, Wis­sen pro­du­zie­ren­der Tätig­kei­ten, ins­be­son­de­re wenn sie sich gesell­schaft­li­chen, sozia­len Pro­ble­men zuwen­den: Wie kann Wis­sen­schaft prak­tisch wer­den über sich selbst hin­aus, ihre nicht nur latent exklu­die­ren­den Selbst­be­züg­lich­kei­ten über­schrei­ten? Alles kann zur Fal­le wer­den: Zuge­hö­rig­kei­ten defi­nie­ren nicht nur Fra­gen wie die, aus wel­chen Tas­sen man trinkt, wann man das Besteck weg­legt. Wie kann Wis­sen­schaft per­so­nell und orga­ni­sa­to­risch, inter­dis­zi­pli­när ihre in der Regel ihren Regeln fol­gend, ihre je ent­re nous inklu­die­ren­den Hand­lungs­be­züg­lich­kei­ten über­win­den, in der Pra­xis wie in der Sache? Dazu der noch immer zögern­de, ver­wei­ger­te Blick über den Zaun der Fächer und Dis­zi­pli­nen: Kli­ma­for­schen­de kön­nen näch­te­lang davon erzäh­len.

Der Ein­druck drängt sich auf, heu­te gese­hen von aus­sen auf einst Wohl­ver­trau­tes: es ist nicht wirk­lich anders gewor­den seit Beginn der Rei­se. Die aktu­el­le Bil­der­spra­che der Wis­sen Pro­du­zie­ren­den in den Sozia­len Medi­en, vor allem sich selbst spie­gelnd, sel­ten ihr Tun ver­ständ­lich über­set­zend, spricht Bän­de: Exzellenz(en) vor allem unter und für sich, wohl­fei­ler öffent­li­cher Rede zum Trotz, nur heu­te meist ohne Tala­re. Eher sel­ten wird Neu­gier auf das Ande­re, die Ande­ren sicht­bar, wirk­sam orga­ni­siert als Chan­ce zu bes­se­rem Wis­sen, wird Wis­sen grenz­über­schrei­tend ver­mit­telt, über­setzt. Wie also wird, wie kann Wis­sen­schaft prak­tisch wer­den, zum Wohl aller Men­schen glei­cher­ma­ßen?

Die­sen Pro­ble­men waren zu Hoch­zei­ten der Frie­dens­be­we­gung in den acht­zi­ger Jah­ren schon ein­mal, am Bei­spiel der Frie­dens­for­schung, diver­se Ver­su­che gewid­met gewe­sen: auch sein letzt­lich nur zivil­ge­sell­schaft­lich, aber doch fast vier Jah­re von 1983 an spen­den­fi­nan­zier­tes Pro­jekt Infor­ma­ti­on Rüs­tung Abrüs­tung IRA. Es hat­te sich mit deren Ende auch wie­der erschöpft. Doch in der Umbruchs­zeit von 1989 schie­nen sich wie­der Fens­ter zu öff­nen. Zivil­ge­sell­schaft orga­ni­sier­te sich. Ein letzt­lich dann doch nur kur­zer Traum vom Bür­ger­schaft­li­chen Enga­ge­ment schien Wirk­lich­keit wer­den, ein all­ge­mei­nes Recht auf Enga­ge­ment, Weltbürger‑, Men­schen­rech­te, die gesell­schaft­li­che Teil­ha­be aller schien(en) zu sich kom­men zu kön­nen. Kon­torZ wur­de kon­kre­ter …

Das Pro­jekt Kon­torZ soll­te bald zwan­zig­jäh­ri­ge Arbeits­er­fah­run­gen wech­seln­der, dabei fast immer ver­aus­ga­bend har­ter Arbeit in unter­schied­li­chen Hand­lungs­fel­dern, Erfah­run­gen aus einer lebens­ge­schicht­lich doch schon lan­gen Rei­se reflek­tie­ren und auf­neh­men — in einem Moment ver­meint­li­chen Wis­sens: wie du dahin gekom­men bist (Atwood). Es woll­te sie end­lich prak­tisch wer­den las­sen. Zukunft, zum gemein­sa­men Wohl und Nut­zen aller Men­schen. Naiv, illu­sio­när? Ein Traum? Viel­leicht. Die Alter­na­ti­ven? Doch die Fens­ter schlos­sen sich ohne­hin bald wie­der. Unklar auch im Nach­he­r­ein, wie weit sie je wirk­lich geöff­net waren: Du warst ein Besu­cher, der immer wie­der den Hügel erklomm und sei­ne Flag­ge hiß­te (Atwood). Vor­aus lagen wei­ter die Mühen der Ebe­nen (Brecht). Die Ber­ge davor wie dahin­ter blie­ben uner­klom­men, aus Grün­den. Die Idee aber blieb.

Aus einem Jahr noch ein­mal Geschäf­te im Auf­trag Drit­ter erle­di­gend geplan­ter ver­ant­wort­li­cher Tätig­keit aus­ser­halb der Stadt, ange­nom­men der Siche­rung not­wen­di­ger Lebens­grund­la­gen im Umbruch wegen, wur­de aus Grün­den, die hier wie auch ande­re an die­ser Stel­le nicht wei­ter The­ma sein sol­len, mehr als ein Jahr­zehnt noch ein­mal har­ter Arbeit, loy­al enga­giert wie immer in der Sache wie auch der anver­trau­en Men­schen wegen, letzt­lich erfolg­reich: Danach zwar wis­send, nicht nur ahnend, wie dort­hin gekom­men; aber nicht ange­kom­men in der Mit­te dei­nes Zim­mers, Hau­ses, hal­ben Mor­gens, Anwe­sen, dei­ner Insel, dei­nes Lan­des (Atwood).

Kein Auf­stieg durch Bil­dung mehr in die­sem Leben, die Rei­se hat­te schon zu lang gedau­ert. Zu alt gewor­den schon war er unter­wegs. Kon­torZ blieb ihm in den Mühen der Ebe­nen (auch der wei­ter not­wen­di­gen Exis­tenz­si­che­rung wegen) in wech­seln­den Hand­lungs­fel­dern eine nur­mehr leben­di­ge, pra­xis­ori­en­tie­ren­de Idee auf der Hin­ter­büh­ne sei­ner Tätig­kei­ten. So wie es auch immer grund­le­gend prä­gend die lebens­lan­ge Wissens‑, Wis­sen­schafts­ori­en­tie­rung im Han­deln war: Kon­torZ reif­te ihm nie zum nach­hal­ti­gen Pro­jekt. Auch die Enga­ge­m­ent­werk­statt blieb ein Ver­such, geen­det wie ande­re Pro­jek­te [!TDs!] auch; viel­leicht mal wie­der ein­fach vor der Zeit gestar­tet, falls vol­ler Zukunfts­zu­ver­sicht gedacht; letzt­lich aber dann ent­sorgt im digi­ta­len Nir­wa­na, ver­weht in den Stür­men ange­sag­ter agi­ler Beweg­lich­keit. Es kam wie immer anders­her­um (Atwood).

Dabei hät­te er es längst bes­ser wis­sen kön­nen: Denn sei­nen letz­ten Lehr­auf­trag “Funk­tio­na­ler Dilet­tan­tis­mus: Erfolg­reich schei­tern­de Orga­ni­sa­tio­nen im “Drit­ten Sek­tor” zwi­schen Markt und Staat” im Win­ter 89/90 hat­te er einst wegen über­bor­den­der ande­rer geschäft­li­cher Ver­pflich­tun­gen, denn mit­ten­drin im Jahr der Gro­ßen Wen­de, trotz gro­ßen Inter­es­ses der Übungs­teil­neh­men­den, letzt­lich abre­chen müs­sen. Die Pflich­ten des Einen und die Inter­es­sen des Ande­ren waren nicht zur Deckung zu brin­gen.


Nun lösen die Bäu­me ihre wei­chen Arme. Eine lan­ge Rei­se geht ihrem Ende zu: Am Anfang das Schreib­heft des Mit­te der fünf­zi­ger Jah­re noch die Süt­ter­lin­schrift ler­nen­den Schü­lers, dann prag­ma­tisch bereits in der ers­ten Hälf­te der acht­zi­ger Jah­re ein trag­ba­rer, noch rei­se­kof­fer­gro­ßer wie ‑schwe­rer ers­ter Com­pu­ter als Werk­zeug. Eine 20 MB gro­ße Fest­plat­te konn­te erst ein­ge­baut wer­den, als eine Stif­tung, kol­le­gi­al ver­mit­telt von dem dem so viel Jün­ge­ren gegen­über zuge­wandt offe­nen Johan Gal­tung, die Kos­ten von rund 4.000 Mark über­nom­men hat­te. Eine bis dahin ihm unbe­kann­te, eine ers­te Begeg­nung mit den Poten­zia­len geleb­ter diver­si­täts­of­fe­ner Welt(erfahrung)en1 Ein ihm ein­drück­li­ches Bei­spiel dafür war Gal­tungs umfang­rei­che Kri­tik an Stil und Orga­ni­sa­ti­on des Wis­sen­schafts­kol­legs zu Ber­lin, des­sen Fel­low Gal­tung 1982/1983 in zwei­ten Jahr war: pdf hier. . Und von da an blieb er auf sei­ner gan­zen wei­te­ren Rei­se immer uner­sätt­lich danach und offen, bis heu­te neu­gie­rig auf ihm frem­de (und auch fer­ne) Welt und Wel­ten, auf die hin­term hohen Hori­zont sei­ner west­fä­li­schen Land­schaf­ten. Doch dabei auf sei­ne Wei­se immer den, dem Men­schen freund­schaft­lich zuge­wandt, und das durch­aus nach Art sen­ti­men­ta­ler west­fä­li­scher Eichen, wie sie schon 1848 Hein­rich Hei­ne in sei­ner Win­ter­rei­se nicht ohne iro­ni­schen Ober­ton als gera­de des­we­gen schät­zens­wert wie unter­schätzt beschrie­ben hat­te.

Im Herbst des 68er Jahrs dann aus der klei­nen Stadt auf  fla­chem Land im Wes­ten, dort wo Jaques Brel fol­gend noch der Wind sich ver­gnügt, wenn er übers Korn springt, ver­schla­gen in die gro­ße, in die ummau­er­te Stadt im Osten hin­ter der Gren­ze, hin­ter dem eiser­nen Vor­hang eines für Jahr­zehn­te ein­ge­fro­re­nen mili­tä­ri­schen Kon­flikts: Zuletzt dann die immer laten­te Kriegs­ge­fahr des Kal­ten Krie­ges trau­ma­ti­si­ernd erlebt für Wochen im Som­mer 1968 nach dem geschwis­ter­li­chen Ein­marsch  in die CSSR, hilf­los ein­ge­sperrt in die August­dor­fer Kaser­ne der glei­chen Pan­zer­bri­ga­de, die jetzt Jahr­zehn­te spä­ter  sich auf den Ein­satz in Litau­en vor­be­rei­tet — so ganz haut­nah zum Ende sei­nes zwei­jäh­ri­gen Mili­tär­diens­tes die eska­lie­ren­de Mobil­ma­chungs­dy­na­mik mili­tä­ri­scher Kon­flikt­lö­sungs­ver­su­che erfah­rend.

In der ummau­er­ten Stadt dann gut zwei Jahr­zehn­te spä­ter ungläu­big auf­ge­wacht in einem all­sei­ti­gen Traum vom Ende aller Mau­ern, Gren­zen, Krie­ge: Nie wie­der die stand­haf­te Wei­ge­rung des acht­jäh­ri­gen Soh­nes vom Som­mer 1989 zu erle­ben, auf einer Fahr­rad­tour ent­lang der hol­län­di­schen Gren­ze, ein­fach hin­über, ein­fach wei­ter zu radeln ins ande­re Land: Das darf man doch nicht! Der Sohn kann­te nur die hei­mat­li­chen Aus­flü­ge immer an der Mau­er ent­lang, dort wo sei­ne Stadt zu Ende war, oder unter­ir­disch visa­be­wehrt die sel­te­nen auf die ande­re Sei­te sei­ner Stadt.

Es war ein zeit­los geschichts­ver­ges­ser, ein illu­sio­nä­rer Traum einer Zukunft inmit­ten blü­hen­der Land­schaf­ten: einer Frie­dens­di­vi­den­den ver­zeh­ren­den vor­geb­lich gren­zen- und  geschichts­lo­sen Welt, der er nicht trau­te — trotz allen frie­dens­po­li­ti­schen Enga­ge­ments zuvor, weder vor­her noch danach. Eine Illu­si­on, bald schon ver­flo­gen, abge­stürzt und unter­ge­gan­gen wie einst Ika­rus: das ruhi­ge Meer schäum­te ohne­hin nur kurz auf. Die Geschäf­te gin­gen wei­ter ihren Gang, fort­ge­weht war nur zu bald der Traum im wie­der auf­flau­en­den Sturm die­ser unge­bro­chen geschäf­tig vor­an­ge­trie­be­nen, die­ser gewalt­träch­tig herr­schaft­lich Natur unter­wer­fen­den, die­ser seit Jahr­tau­sen­den fort­schrei­ten­den, destruk­ti­ven mensch­li­chen Geschich­te. Sara­je­wo war seit 1992 nur eines der ers­ten Mene­te­kel an der Wand, der vie­le wei­te­re Inschrif­ten vor­an­gin­gen und folg­ten.


Kon­torZ wird nun zum per­sön­li­chen Archiv und Gedächt­nis einer lan­gen Rei­se: Ein Archiv nur­mehr vor allem der Bil­der im Vor­über­ge­hen (sei­ner unge­leb­ten Lei­den­schaft seit Schü­ler­zei­ten wie der für Tex­te, zumal zur Poe­sie), auch jenes Ande­ren, des Frans de Lip­pe; und dazu noch eini­ge Tex­te auf­ge­ho­ben der Doku­men­ta­ti­on wegen  — und noch immer und auch wei­ter gele­gend­li­che Nota­te vom Tag: Nichts Erfun­de­nes. Genau sein. Klei­ne Din­ge beob­ach­ten. Details, Punk­te, so wie Ilse Aichin­ger es zuletzt nur noch woll­te, von unter den Tagen oder danach gesam­melt, #Lese­Fun­de von oft lan­gen Flü­gen in die Däm­me­rung, in die Nacht.

Sei­ne unge­zähl­ten Tex­te aber, die ach so vie­len Wör­ter, Wor­te aus Jahr­zehn­ten eines uner­müd­li­chen Schreib­tiers im geschäf­ti­gen Auf­trag und auf Anfor­de­rung zu Pro­to­koll gege­ben, bei all den Geschäf­ten, die die Tage häu­fig rest­los ver­zehr­ten, doch deren Resul­ta­te den letz­ten Zug errei­chen muß­ten, wie einst die Bil­der des Tages von der Lokal­re­dak­ti­on auf dem Weg zur Dru­cke­rei, auch die so vie­len Fotos, die über die Jah­re dabei ent­stan­den, sie fin­den es hier­her nun nicht mehr.

Den Zug erreichen - Bahnhof Zoo

Die Pro­jekt­idee Kon­torZ: Frei­wild, es mag den Faden auf­neh­men, wer will. Denn als er 70 war und war gebrech­lich | dräng­te es den Leh­rer doch nach Ruh | denn die Güte war im Lan­de wie­der ein­mal schwäch­lich | und die Bos­heit nahm an Kräf­ten wie­der ein­mal zu. | Und er gür­te­te den Schuh. So jeden­falls erzählt die schon dem Schü­ler ver­trau­te Brecht´sche Legen­de vom zur letz­ten Rei­se in die Ber­ge Auf­bre­chen­dem, den die Zöll­ner samt sei­nem Kna­ben nicht ein­fach gehen lie­ßen, weil er her­aus­ge­fun­den haben soll­te, dass das wei­che Was­ser in Bewe­gung mit der Zeit den mäch­ti­gen Stein besiegt. Und ihn dar­um nicht ohne einen Bericht über sei­nen Fund wei­ter­zie­hen lie­ßen; sie woll­ten vom ihm lesen kön­nen. Sie­ben Tage schrie­ben sie, der Leh­rer und der Kna­be.

So ist´s auch dies­mal: Vorm Auf­bruch in die Biblio­thek am Meer, dazu spä­ter noch mehr, waren die Zöll­ne­rin­nen gebe­ten wor­den, auch ihm noch einen Bericht der lan­gen Rei­se abzu­for­dern, jeden­falls eini­ge baten dar­um, und mach­mal haben sie dabei auch nach dem Ande­ren, dem Dahin­ter des Gesichts (Däub­ler) gefragt. Es müs­se ja nicht gleich ein Buch der erfah­rungs­wei­sen Wor­te wer­den, mein­ten sie, die Fotos zum Bei­spiel, das eine oder ande­re von den Wör­tern und Wor­ten der ande­ren Tex­te, nicht die zum als­bal­di­gen Ver­brauch in geschäf­ti­gen Tages­ge­schäf­ten bestimm­ten, die so vie­le Ord­ner fül­len­den, die wirk­lich nicht, das wäre es doch. Auch weil in den über 75 Jah­ren vie­les wohl anders­her­um war, als es schien. Und weil es auch Leben war, Tag für Tag. Und weil nicht immer Zeit blieb zum Schrei­ben und Berich­ten, vor allem auch nicht zum Spre­chen. Also jetzt nur noch der Rei­se­be­richt für wei­ter Weg­be­glei­ten­de, viel­leicht noch ein­mal Dazu­kom­men­de (und die Mit­rei­sen­den auf mehr oder weni­ger lan­gen Teil­stre­cken, nicht nur die, die sich kürz­lich noch­mal mel­de­ten, zu häu­fig aus dem Augen, nicht aus dem Sinn gera­ten), der bleibt jetzt noch zu geben.


Die lebens­lan­ge Ori­en­tie­rung auf Fra­gen eines all­ge­mei­nen Zugangs zu und der Ver­mitt­lung von Wis­sen, einer Bil­dung für alle hat (s)eine Vor­ge­schich­te: als ers­ter in sei­ner enge­ren Fami­lie war er auf­ge­wach­sen mit der vor­geb­li­chen Chan­ce, dem Ange­bot des gesell­schaft­li­chen Auf­stiegs, des Wei­ter­kom­mens, einer selbst­be­stimm­ten Zukunft (allein) durch Bil­dung. Ein bis heu­te immer wie­der wohl­feil gege­be­nes und eben­so nach­hal­tig immer wie­der geschei­ter­tes Ver­spre­chen; gegen­wär­tig wie­der ein­mal mit aller Macht. Auch ihm galt die­ses poli­ti­sche Ver­spre­chen zur Zeit der so genannt ers­ten Bil­dungs­ka­ta­stro­phe in der Bun­des­re­pu­blik der frü­hen sech­zi­ger Jah­re; dabei in einem Haus auf­wach­send prak­tisch ohne Bücher, jeden­falls ande­re als für Beruf und Glau­bens­fra­gen vor­zu­hal­ten­de .… Ein­zig ein eng­lisch­spra­chi­ges Taschen­buch von Pearl S. Buck, wie immer ins Haus gelangt und noch immer gehegt, ist aus den fünf­zi­ger Jah­ren erin­ner­lich.

Um den Bil­dungs­auf­stieg des Soh­nes (und nicht so sehr im Blick der der bei­den nach­fol­gen­den Töch­ter) zu unter­stüt­zen, gelang­ten dann in den frü­hern sech­zi­ger Jah­ren Herder´s Lexi­kon wie Brehms Tier­le­ben, die Dich­tung der Roman­tik, die Wer­ke Goe­the und Schil­lers, Welt­kriegs­ge­schich­ten und ande­re enzy­klo­pä­di­sche Wer­ke wie die von Golo Mann und Afred Heuss her­aus­ge­ge­be­ne Pro­py­lä­en Welt­ge­schich­te ins Haus, immer mehr­bän­dig und abge­spart und auf Raten abge­zahlt; der boo­men­de Tür-zu-Tür-Han­del mit kano­ni­schen Bil­dungs­wa­ren (Ber­tels­mann & Co) fand immer wie­der offe­ne Ohren bei sei­nem Vater. Ihm sel­ber boten sie viel­fäl­ti­ge Wel­ten öff­nen­de Lese­stof­fe unterm Dach, Ein­stieg in die wil­den Lek­tü­ren sei­ner wei­te­ren Jah­re, bei ihm weck­ten sie Neu­gier auf ande­re, nicht kano­ni­sier­te Tex­te und Bil­der, auf die er stieß, die ihn inter­es­sier­ten, das nim­mer­sat­te Wort- und Augen­tier …

Bücher und Zei­tun­gen (spät­abends auch bald das Radio im Zim­mer unterm Dach, aber mehr der gemein­sa­men Quiz­sen­dung von BBC und RIAS und Chris How­land aka Hein­rich Pum­per­ni­ckels wegen), vor allem Bücher. Sie waren nicht nur in der west­fä­li­schen Pro­vinz zu jener Zeit noch das zen­tra­le weil fast ein­zig zugäng­li­che Wis­sens­me­di­um — zu bekom­men aber waren sie in der klei­nen Stadt nur schwer, wenn über­haupt, und mach­mal auch nur auf mal krum­men Wegen; sie blie­ben ein­fach bei ihm. Bücher, ins­be­son­de­re ande­re als die auf Raten vom Vater für ihn erwor­be­nen, wur­den schon dem Schü­ler so zu begehr­ten, gehü­te­ten Schät­zen und blei­ben es lebens­lang.

Sein ers­ter Anti­qua­ri­ats­kauf erfolg­te noch zu Schü­ler­zei­ten beim legen­dä­ren Bücher­such­dienst Pin­kus in Zürich, von dem ihm irgend­wie in West­fa­len Kun­de erreicht hat­te. Der ist eben­so wie das dar­aus ent­stan­de­ne Anti­qua­ri­at zuletzt im Zan­gen­griff von Inter­net­trans­pa­renz und Immo­bi­li­en­ver­wer­tungs­in­ter­es­sen  vom Markt ver­schwun­den; nicht aber von sei­ner Wand hin­term Schreit­sch das gro­ße Foto­por­trait von Theo­dor Pin­kus, aus­ge­schnit­ten aus einer Tages­zei­tung, als die­se noch fast halb­sei­ti­ge Fotos brach­ten, und das seit Jahr­zehn­ten, längst ver­gilbt, dort hängt. [!FOTO!]

Wei­te­re Bücher gelang­ten früh zu ihm durch die Schü­ler­zei­tung mit frei­zü­gi­gen Rezen­si­ons­an­ge­bo­ten wie denen des neu­en dtv-Ver­lags; ande­re wie Hork­hei­mers Zur Kri­tik der Instru­men­tel­len Ver­nunft dadurch, dass der Chef der poli­ti­schen Redak­ti­on es dem jun­gen Vol­un­tär beim Start in ein Berufs­le­ben im Jour­na­lis­mus zur Rezen­si­on (aber nicht mehr als 60 Zei­len) auf den Schreib­tisch leg­te. Vie­le mehr kamen dazu beim Stu­di­um zur künf­ti­gen Selbst­er­mäch­ti­gung in die­sem Beruf (es kam auch dies­mal anders­her­um); und bis heu­te bei all sei­nen spä­te­ren Tätig­kei­ten in diver­sen Hand­lungs­fel­dern.

Sei­ne Schul­zeit, das war die Zeit noch Licht­jah­re vor dem Inter­net; das Fern­se­hen sen­de­te schwarz­weiß, gelang­te erst zu den Olym­pi­schen Spie­len 1964 in Tokio über­haupt ins Haus. Loko­mo­ti­ven fuh­ren noch unter Dampf. Und doch: Befä­hi­gen­de, ermäch­ti­gen­de Bil­dungs­er­fah­run­gen zu ver­ant­wort­li­cher, ver­ant­wor­te­ter Hand­lungs­fä­hig­keit, auch die gab es bereits in der Schu­le mit­ten in der Pro­vinz, auch auf dem fla­chen Lan­de zu Zei­ten der ers­ten Bil­dungs­ka­ta­stro­phe. Sub­ver­si­ve Fla­schen­pos­ten.

So das schma­le Insel-Bänd­chen sei­nes Deutsch­leh­rers mit den nach­ge­las­se­nen Gedich­ten von Georg Heym und Holz­schnit­ten von Ernst Lud­wig Kirch­ner, Umbra vitae, ihm ver­blie­ben über des­sen frü­hen kriegs­fol­gen­be­ding­ten Tod hin­aus. Ihm ver­dank­te er auch den Zugang zu Geor­ge Grosz samt des­sen Chris­tus mit der Gas­mas­ke für den Abdruck in der Schü­ler­zei­tung; und der Mit­ar­beit in der Schü­ler­zei­tung durch des­sen Nach­fol­ger auch die Teil­nah­me an einem der ers­ten Semi­na­re des gera­de gegrün­de­ten Deut­schen-Fran­zö­si­schen Jugend­werks in Paris: Euro­pa. Der Traum von Paris. In den weni­gen frei­en Stun­den, im Vor­über­ge­hen, Mont­mart­re, Ril­kes Pan­ther im Jar­din des Plan­tes gesucht: Sein Blick ist vom Vor­über­gehn der Stä­be | so müd gewor­den, dass er nichts mehr hält. | Ihm ist, als ob es tau­send Stä­be gäbe | und hin­ter tau­send Stä­ben kei­ne Welt. Ein neu­er Taschen­buch­ver­lag öff­ne­te dem Schü­ler­zei­tungs­re­dak­teur welt­weit die Tore zum Muse­um der moder­nen Poe­sieUnd im münd­li­chen Abitur 1966 wur­de ihm von sei­nem Deutsch­leh­rer Wal­ter Höl­le­rers Gedicht Der lag beson­ders mühe­los am Rand zur Inter­pre­ta­ti­on auf­ge­ge­ben; ers­ter Lei­ter des 1963 gegrün­de­ten Lite­ra­ri­schen Col­lo­qui­ums Ber­lin. Der Sohn, zu Hau­se in einer Biblio­thek, wie er früh in der Schu­le sein Zuhau­se beschrieb, bau­te als Infor­ma­ti­ker Jahr­zehn­te spä­ter für das LCB einen Lite­ra­tur­port mit auf und betreu­te ihn von 2005 bis 2018: einen vir­tu­el­len, welt­of­fe­nen Hafen für Wör­ter und Wor­te (und auch Bil­der). Die Fla­schen­pos­ten sei­ner Schul­zeit.. wozu auch spä­tes­tens ab 1962 die in der Schu­le vorm Leh­rer­zim­mer zur frei­en Mit­nah­me aus­lie­gen­den Exem­pla­re der “Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung” gehör­ten. wirk­ten nach, zei­tig­ten Fol­gen.

Eine per­sön­li­che Biblio­thek schien schon dem Auf­wach­sen­den, in sei­nem Zim­mer unterm Dach mit Blick über wei­te, heu­te längst zuge­bau­te Fel­der, auf überm fla­chen Land dahin trei­ben­de, jagen­de Wol­ken, die Fens­ter zur Welt auf­zu­sto­ßen, Räu­me für Zukunft zu öff­nen. Denn in die­sen Vor-Boo­mer-Zei­ten waren auf dem Gym­na­si­um noch die in der Min­der­heit, die wie er aus Haus­hal­ten ohne Biblio­thek stamm­ten; es war noch nicht so, als wie es der Sozio­lo­ge Heinz Bude kürz­lich für sei­ne nach­fol­gen­de Boo­mer-Gene­ra­ti­on beschrieb. Ihn mach­te es dort als nicht wirk­lich zuge­hö­rig kennt­lich, zumin­dest glaub­te er es, und er hat­te gute Grün­de. Vie­len wur­de und war er brauch­bar, in Schu­le und Uni­ver­si­tät, Bin­dun­gen wuch­sen dort dar­aus nicht, er gehör­te dort nicht dazu, wohin Bil­dung ihn brach­te. Doch Bücher konn­ten sie ihm nicht ver­weh­ren, lesend, schau­end unterm Dach, sie wur­den ihm jeden­falls zur lebens­lan­gen Obses­si­on, und das nicht nur als ver­meint­li­che Garan­ten eines schnell ent­täusch­ten poli­ti­schen Ver­spre­chens auf Zukunft durch Bil­dung, durch Leis­tung, auf Auf­stieg und glei­che Teil­ha­be, some­time, some­whe­re. Sie öff­ne­ten jedoch dem Ande­ren Fens­ter zur Welt, mach­ten den Blick für Zukünf­ti­ges frei, hiel­ten ihn neu­gie­rig auf Men­schen und ihre Wel­ten, bis heu­te.

Viel­leicht tref­fen wir uns zur Früh­lings­zeit mal im Vor­über­ge­hen im Anti­qua­ri­at und Café Mor­gen­stern der Bücher­sam­meln­den vom Sin­ne­Werk, links zwei Häu­ser vom Bal­kon ent­fernt mei­nes ers­ten Zim­mers in Ste­glitz 1968 (der unten, er sah sehr anders aus, kriegs­ver­sehrt, nicht bewohn­bar); beim Bäcker gegen­über gab´s früh­mor­gens auch schon vor der Zeit fri­sche Bröt­chen nach nächt­li­chem Bade-Aus­flug zur Krum­men Lan­ke. Oder im Café der Schwartz´schen Vil­la jen­seits der S‑Bahn und im Park auf Baum­stümp­fen noch­mal nach Nazim Hik­mets Ver­sen suchend: “En guzel gun­le­ri­miz: hen­uz yasa­ma­di­kla­ri­miz. Unse­re schöns­ten Tage: es sind die noch nicht geleb­ten.”

Aber die Zuver­sicht, dass die von Anbe­ginn gewalt­träch­ti­ge mensch­li­che Geschich­te wie ein böser Traum im Mor­gen­licht eines neu­en Tages ein­fach ver­ge­hen könn­te, die hat(te) er längst nicht mehr und heu­te weni­ger denn je: hat er doch auf sei­ner lan­gen Rei­se zu viel Wis­sen gesam­melt über die Destruk­tiv­käf­te die­ser unse­rer Welt(en), nicht nur über Mini­nucs und Neu­tro­nen­waf­fen, den vor­geb­lich kriegs­taug­li­che­ren Vari­an­ten von Atom­waf­fen, über grau­sa­me Waf­fen und noch ande­res: Wei­te­re Aus­sich­ten: Krie­ge welt­weit.

Die Zer­stö­rung der Natio­nal­bi­blio­thek in Sara­je­vo 1992 war schon ihrer­zeit nur ein Mene­te­kel mehr, die zer­stör­ten Biblio­the­ken in der Ukrai­ne, Syri­en und anders­wo in der Welt zeich­nen wei­te­re auf die Wand in die­ser end­lo­sen Geschich­te von Krieg und Gewalt, der Zer­stö­rung des Wis­sens über Men­schen, ihre Welt(en), Natur und Leben, und der Erin­ne­rung an die Kämp­fe, den Wider­stand dage­gen. Die Fra­ge nach einem all­ge­mei­nen unbe­schränk­ten, einem diver­si­täts­of­fe­nen Zugang zu Wis­sen, zur Wis­sen­schaft für alle, sie also bleibt. Birgt doch Bil­dung die letz­te Hoff­nung dar­auf, Men­schen auch in dunk­len Zei­ten wie die­sen zu ver­ant­wort­li­chem Han­deln befä­hi­gen und ermäch­ti­gen zu kön­nen: Teilhabe(n) in ihrem wohl­ver­stan­de­nen eige­nen Inter­es­se, ihrem gemein­sa­men. Han­delnd: Den Aus­gang aus der selbst­ver­schul­de­ten Unmün­dig­keit suchen, uner­müd­lich wie einst Sisy­phos, der angeb­lich der glück­lichs­te Mensch gewe­sen sein soll, weil sei­ne Auf­ga­be nie zu Ende ging. Die unein­ge­lös­te Auf­ga­be der Auf­klä­rung in Zei­ten der Ver­dun­ke­lung. Trotz alle­dem.


Tex­te im (Foto)Blog also sol­len es nun hier wer­den, Details.Punkte. ange­legt als Rei­se­be­richt rund um mein letz­tes Pro­jekt Kon­torZ, mein erfolg­reich für mich geschei­ter­tes. In Ber­lin zu notie­ren begon­nen am 1. Janu­ar 2024, seit­dem auf der Werk­bank lie­gend, obwohl noch nicht fer­tig doch gleich­wohl lau­fend für den Zoll frei­ge­setzt, weil not­wen­dig nach die­ser schon zu lan­gen Rei­se unklar ist, ob mei­ne Zeit noch reicht. Und noch immer haben die Zöllner:innen, ja, es haben sich zuletzt auch Zöll­ne­rin­nen ihnen zuge­sellt, mir die Wei­ter­rei­se zur Biblio­thek am Meer nicht frei­ge­ben wol­len. Sie zwei­feln, der Win­ter war wie­der sehr warm gewe­sen wie schon die letz­ten Som­mer, ob die Sache mit dem wei­chen Was­ser und dem mäch­ti­gen Stein wirk­lich eine Lösung ist, ob die Zeit, die dafür not­wen­dig wäre, ob sie der Welt rei­chen wür­de.

Zeitenwende(n). Wendezeit(en). Und jeden Mor­gen, wenn die Ant­wort gefun­den schien, lös­te einer von ihnen die Schnur der auf­ge­roll­ten Lein­wand: und sicht­bar wur­de der Blaue Mann auf der Bank, der so sehr zwei­fel­te. Nach­denk­lich betrach­te­ten sie mit Neu­gier den zwei­feln­den Blau­en Mann auf der Lein­wand, sahen sich an und began­nen von vor­ne. So blei­be ich denn noch hier, Tag für Tag weni­ger zuver­sicht­lich, wei­ter hof­fend (aber nicht wis­send), dass (und ob) nicht alles im Rauch die­ser noch immer elen­den Zeit­läuf­te out of joint auf­geht, die sich Geschich­te nen­nen.

Längst ver­gilbt ist die Abschrift von Brecht´s Der Zweif­ler auf der Bil­der­wand hin­ter mei­nem alten Schreib­tisch, seit Jahr­zehn­ten dort hän­gend. Nun wird sie mit ans Meer gehen, falls die Zöllner:innen den Weg doch noch frei­ge­ben … Ich wer­de sie im letz­ten Moment ein­pa­cken.


Vor Use­dom, im Vor­über­ge­hen, gese­hen am 13. Novem­ber 2004

Bei Bol­ten­ha­gen, im Vor­über­ge­hen, gese­hen am 02. März 2024


Frans de Lippe´s Bilderhefte - Nr. 6

Bil­der im Vor­über­ge­hen
und der Anfang und das Ende der Geschich­te, wie der Maler Saku­mat eine Welt für Madu­ra mal­te.

Frans de Lippe´s Bil­der­hef­te — Nr. 6
Ber­lin 2010

 

“Ein paar Tage spä­ter ver­ließ der Maler auf eige­nen Wunsch mit dem jun­gen Pferd den Palast und das Dorf. Am Ein­gang des Tals, bevor Nac­tu­mal aus sei­nen Augen ver­schwand, hielt Saku­mat das Pferd an, mach­te aus ein paar dür­ren Zwei­gen einen Hau­fen, leg­te die Kis­te dar­auf, die sei­ne Pin­sel ent­hielt und ent­fach­te ein Feu­er. Er setz­te sich davor und schau­te zu, wie der Rauch des Hol­zes sich zwi­schen den grau schim­mern­den Fel­sen ver­lor und die Flämm­chen des klei­nen Schei­ter­hau­fens leb­haft in unge­wöhn­li­chen Fär­bun­gen auf­fla­cker­ten. Als alles zu Asche gewor­den war, blick­te Saku­mat ein letz­tes Mal auf Nac­tu­mal und bestieg wie­der sein Pferd.”

Als er zwei Tage spä­ter in Mala­tya ankam, erkann­ten sie ihn kaum. Vie­le frag­ten, was ihn so lan­ge fern­ge­hal­ten habe. Allen ant­wor­te­te Saku­mant, dass es eine lang­wie­ri­ge Arbeit gewe­sen sei, und nicht mehr.
Als sich die Nach­richt von sei­ner Rück­kehr ver­brei­tet hat­te, begann man wie­der, an sei­ne Tür zu klop­fen und ihn zu fra­gen, ob er Jagd- und Bade­sze­nen, Blu­men und Vögel malen könn­te. Nach­dem er dem Zehn­ten, der gekom­men war, Nein gesagt und sich zum zehn­ten Mal gewei­gert hat­te, den Grund dafür zu sagen, ver­kauf­te Saku­mat sein Haus und ver­ab­schie­de­te sich für immer von sei­nen Freun­den.

… weit weg, am Ran­de eines klei­nen Dor­fes, das zwi­schen ele­fan­ten­gro­ßen Fel­sen ver­streut lag, kauf­te er ein Häus­chen. Es sah aus wie ein Fels zwi­schen den ande­ren und stand ganz nahe am Strand. Dort hör­te man das unun­ter­bro­che­ne Rau­schen der Wel­len, das gleich­zei­tig war wie eine ewi­ge Stil­le. Er lern­te die Bewoh­ner des Dor­fes ken­nen, und manch einer wur­de sein Freund, mit dem er dann Tee trank, koch­te, und in aller Ruhe die Din­ge der Gegen­wart besprach. Er leb­te noch lan­ge in Frie­den als Fischer.
Piumi­ni, Rober­to (*1947): Eine Welt für Madu­rer. (Lo stra­lis­co.)
Mün­chen und Wien, Han­ser 1999, 100ff 


“Aber ein Sturm weht vom Para­die­se her, der sich in sei­nen Flü­geln ver­fan­gen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schlies­sen kann. Die­ser Sturm treibt ihn unauf­halt­sam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, wäh­rend der Trüm­mer­hau­fen vor ihm zum Him­mel wächst. Das, was wir Fort­schritt nen­nen, ist die­ser Sturm.“
Wal­ter Ben­ja­min (*1892): Über den Begriff der Geschich­te, 1940

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    Ein ihm ein­drück­li­ches Bei­spiel dafür war Gal­tungs umfang­rei­che Kri­tik an Stil und Orga­ni­sa­ti­on des Wis­sen­schafts­kol­legs zu Ber­lin, des­sen Fel­low Gal­tung 1982/1983 in zwei­ten Jahr war: pdf hier.