Noch immer auf der Werkbank,
zuletzt daran gewerkelt im Oktober 2025
beobachten
annotieren
informieren
BEFÄHIGEN
ERMÄCHTIGEN
HANDELN
fenster öffnen sich
und schliessen wieder
»Menschen sind Worttiere«, notierte Erich Arendt: »Das
Schreiben beginnt lange vor dem Schreiben.«
Sie interessiere der Rand der Welt, sagte Sibylle Bergemann, nicht
ihre Mitte. Das Nichtaustauschbare sei für sie von Belang:
»Wenn etwas nicht stimmt in den Gesichtern oder Landschaften.«
»Jedes Gesicht hat ein Dahinter«, beobachtete Theodor Däubler.
»Berichte schreiben, nichts Erfundenes. Genau sein. Kleine Dinge
beobachten, Details. Punkte.« Das Schreiben, wünschte Ilse Aichinger, müßte punktueller sein. Sie wäre froh, wenn sie etwas schreiben könnte,
das deutlich mache, »daß diese Welt hilfsbedürftig ist«.
»Sagen Sie Ihm, daß er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen,
wenn er Mann sein wird, nicht öffnen soll dem tödtenden Insekte gerühmter besserer Vernunft das Herz der zarten Götterblume – daß er nicht soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit Begeisterung, die Himmelstochter,
lästert.” trug in Schillers Don Carlos der Marquis der Königin auf.
»Der Traum ist aus! Der Traum ist aus! Aber ich werde alles geben,
daß er Wirklichkeit wird« sang einst Rio Reiser.
»Glück hat ja dieselbe Sprachwurzel wie Gelingen, worin noch der aktive Eigenanteil im Glücksbegriff steckt« — notierte Oskar Negt in seiner Abschiedsvorlesung, berichtend von einer frühen, »durch Bitterkeit gebrochenen Glückserfahrung´, geschuldet seiner ´eigensinnigen Neugierde«.
“Alles ist Archiv, alles ist im Begriff, Archiv zu werden und
in Rauch aufzugehen …” notierte Thomas Kling.
“Noch deine Bäume, Deutschland, wissen zu viel” schloss Erich Arendt
seine ELEGIE IV. In memoriam Albert Einstein.
ZukunftsKontor | KontorZukunft | KontorZ
“Weißt du”, sagte er,
“Jetzt beginne ich
viel zu verstehen von der Welt.
Jetzt könnt´ ich mich gut unterhalten
könnte den Leuten viel erzählen.“
Aber es kam keiner,
keiner wollte es hören,
keiner.
Henryk Bereska
Onkel Roman

Als in der ersten Hälfte der neunziger Jahre wieder einmal eine berufliche Neuorientierung angesagt war, reifte die im Jahrzehnt zuvor von Wissenschaftsläden und wissenschaftsjournalistischen Vorhaben angeregte Idee eines KontorZ: eines Kontors Zukunft, eines Zukunftskontors immer mehr zu einem neuen, diesmal eigenständigen Projektversuch: Wie kann Wissenschaft, Wissen, wie können Informationen so in verständliche Alltagssprache übersetzt, wie können sie so organisiert werden, dass sie dem Grunde nach alle Menschen zu verantwortlichem, rationalen gesellschaftlichen und politischen Handeln befähigen und ermächtigen können. Inklusion oder Exklusion. Teilhabe oder Ausschluss.
Es war und ist noch immer ein ungelöstes praktisches Problem organisierter, sich organisierender, verberuflichter, eigene Formen der Verständigung, der Sprache herausbildender wissenschaftlicher, Wissen produzierender Tätigkeiten, insbesondere wenn sie sich gesellschaftlichen, sozialen Problemen zuwenden: Wie kann Wissenschaft praktisch werden über sich selbst hinaus, ihre nicht nur latent exkludierenden Selbstbezüglichkeiten überschreiten? Alles kann zur Falle werden: Zugehörigkeiten definieren nicht nur Fragen wie die, aus welchen Tassen man trinkt, wann man das Besteck weglegt. Wie kann Wissenschaft personell und organisatorisch, interdisziplinär ihre in der Regel ihren Regeln folgend, ihre je entre nous inkludierenden Handlungsbezüglichkeiten überwinden, in der Praxis wie in der Sache? Dazu der noch immer zögernde, verweigerte Blick über den Zaun der Fächer und Disziplinen: Klimaforschende können nächtelang davon erzählen.
Der Eindruck drängt sich auf, heute gesehen von aussen auf einst Wohlvertrautes: es ist nicht wirklich anders geworden seit Beginn der Reise. Die aktuelle Bildersprache der Wissen Produzierenden in den Sozialen Medien, vor allem sich selbst spiegelnd, selten ihr Tun verständlich übersetzend, spricht Bände: Exzellenz(en) vor allem unter und für sich, wohlfeiler öffentlicher Rede zum Trotz, nur heute meist ohne Talare. Eher selten wird Neugier auf das Andere, die Anderen sichtbar, wirksam organisiert als Chance zu besserem Wissen, wird Wissen grenzüberschreitend vermittelt, übersetzt. Wie also wird, wie kann Wissenschaft praktisch werden, zum Wohl aller Menschen gleichermaßen?
Diesen Problemen waren zu Hochzeiten der Friedensbewegung in den achtziger Jahren schon einmal, am Beispiel der Friedensforschung, diverse Versuche gewidmet gewesen: auch sein letztlich nur zivilgesellschaftlich, aber doch fast vier Jahre von 1983 an spendenfinanziertes Projekt Information Rüstung Abrüstung IRA. Es hatte sich mit deren Ende auch wieder erschöpft. Doch in der Umbruchszeit von 1989 schienen sich wieder Fenster zu öffnen. Zivilgesellschaft organisierte sich. Ein letztlich dann doch nur kurzer Traum vom Bürgerschaftlichen Engagement schien Wirklichkeit werden, ein allgemeines Recht auf Engagement, Weltbürger‑, Menschenrechte, die gesellschaftliche Teilhabe aller schien(en) zu sich kommen zu können. KontorZ wurde konkreter …
Das Projekt KontorZ sollte bald zwanzigjährige Arbeitserfahrungen wechselnder, dabei fast immer verausgabend harter Arbeit in unterschiedlichen Handlungsfeldern, Erfahrungen aus einer lebensgeschichtlich doch schon langen Reise reflektieren und aufnehmen — in einem Moment vermeintlichen Wissens: wie du dahin gekommen bist (Atwood). Es wollte sie endlich praktisch werden lassen. Zukunft, zum gemeinsamen Wohl und Nutzen aller Menschen. Naiv, illusionär? Ein Traum? Vielleicht. Die Alternativen? Doch die Fenster schlossen sich ohnehin bald wieder. Unklar auch im Nachherein, wie weit sie je wirklich geöffnet waren: Du warst ein Besucher, der immer wieder den Hügel erklomm und seine Flagge hißte (Atwood). Voraus lagen weiter die Mühen der Ebenen (Brecht). Die Berge davor wie dahinter blieben unerklommen, aus Gründen. Die Idee aber blieb.
Aus einem Jahr noch einmal Geschäfte im Auftrag Dritter erledigend geplanter verantwortlicher Tätigkeit ausserhalb der Stadt, angenommen der Sicherung notwendiger Lebensgrundlagen im Umbruch wegen, wurde aus Gründen, die hier wie auch andere an dieser Stelle nicht weiter Thema sein sollen, mehr als ein Jahrzehnt noch einmal harter Arbeit, loyal engagiert wie immer in der Sache wie auch der anvertrauen Menschen wegen, letztlich erfolgreich: Danach zwar wissend, nicht nur ahnend, wie dorthin gekommen; aber nicht angekommen in der Mitte deines Zimmers, Hauses, halben Morgens, Anwesen, deiner Insel, deines Landes (Atwood).
Kein Aufstieg durch Bildung mehr in diesem Leben, die Reise hatte schon zu lang gedauert. Zu alt geworden schon war er unterwegs. KontorZ blieb ihm in den Mühen der Ebenen (auch der weiter notwendigen Existenzsicherung wegen) in wechselnden Handlungsfeldern eine nurmehr lebendige, praxisorientierende Idee auf der Hinterbühne seiner Tätigkeiten. So wie es auch immer grundlegend prägend die lebenslange Wissens‑, Wissenschaftsorientierung im Handeln war: KontorZ reifte ihm nie zum nachhaltigen Projekt. Auch die Engagementwerkstatt blieb ein Versuch, geendet wie andere Projekte [!TDs!] auch; vielleicht mal wieder einfach vor der Zeit gestartet, falls voller Zukunftszuversicht gedacht; letztlich aber dann entsorgt im digitalen Nirwana, verweht in den Stürmen angesagter agiler Beweglichkeit. Es kam wie immer andersherum (Atwood).
Dabei hätte er es längst besser wissen können: Denn seinen letzten Lehrauftrag “Funktionaler Dilettantismus: Erfolgreich scheiternde Organisationen im “Dritten Sektor” zwischen Markt und Staat” im Winter 89/90 hatte er einst wegen überbordender anderer geschäftlicher Verpflichtungen, denn mittendrin im Jahr der Großen Wende, trotz großen Interesses der Übungsteilnehmenden, letztlich abrechen müssen. Die Pflichten des Einen und die Interessen des Anderen waren nicht zur Deckung zu bringen.

Nun lösen die Bäume ihre weichen Arme. Eine lange Reise geht ihrem Ende zu: Am Anfang das Schreibheft des Mitte der fünfziger Jahre noch die Sütterlinschrift lernenden Schülers, dann pragmatisch bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre ein tragbarer, noch reisekoffergroßer wie ‑schwerer erster Computer als Werkzeug. Eine 20 MB große Festplatte konnte erst eingebaut werden, als eine Stiftung, kollegial vermittelt von dem dem so viel Jüngeren gegenüber zugewandt offenen Johan Galtung, die Kosten von rund 4.000 Mark übernommen hatte. Eine bis dahin ihm unbekannte, eine erste Begegnung mit den Potenzialen gelebter diversitätsoffener Welt(erfahrung)en1 Ein ihm eindrückliches Beispiel dafür war Galtungs umfangreiche Kritik an Stil und Organisation des Wissenschaftskollegs zu Berlin, dessen Fellow Galtung 1982/1983 in zweiten Jahr war: pdf hier. . Und von da an blieb er auf seiner ganzen weiteren Reise immer unersättlich danach und offen, bis heute neugierig auf ihm fremde (und auch ferne) Welt und Welten, auf die hinterm hohen Horizont seiner westfälischen Landschaften. Doch dabei auf seine Weise immer den, dem Menschen freundschaftlich zugewandt, und das durchaus nach Art sentimentaler westfälischer Eichen, wie sie schon 1848 Heinrich Heine in seiner Winterreise nicht ohne ironischen Oberton als gerade deswegen schätzenswert wie unterschätzt beschrieben hatte.
Im Herbst des 68er Jahrs dann aus der kleinen Stadt auf flachem Land im Westen, dort wo Jaques Brel folgend noch der Wind sich vergnügt, wenn er übers Korn springt, verschlagen in die große, in die ummauerte Stadt im Osten hinter der Grenze, hinter dem eisernen Vorhang eines für Jahrzehnte eingefrorenen militärischen Konflikts: Zuletzt dann die immer latente Kriegsgefahr des Kalten Krieges traumatisiernd erlebt für Wochen im Sommer 1968 nach dem geschwisterlichen Einmarsch in die CSSR, hilflos eingesperrt in die Augustdorfer Kaserne der gleichen Panzerbrigade, die jetzt Jahrzehnte später sich auf den Einsatz in Litauen vorbereitet — so ganz hautnah zum Ende seines zweijährigen Militärdienstes die eskalierende Mobilmachungsdynamik militärischer Konfliktlösungsversuche erfahrend.
In der ummauerten Stadt dann gut zwei Jahrzehnte später ungläubig aufgewacht in einem allseitigen Traum vom Ende aller Mauern, Grenzen, Kriege: Nie wieder die standhafte Weigerung des achtjährigen Sohnes vom Sommer 1989 zu erleben, auf einer Fahrradtour entlang der holländischen Grenze, einfach hinüber, einfach weiter zu radeln ins andere Land: Das darf man doch nicht! Der Sohn kannte nur die heimatlichen Ausflüge immer an der Mauer entlang, dort wo seine Stadt zu Ende war, oder unterirdisch visabewehrt die seltenen auf die andere Seite seiner Stadt.
Es war ein zeitlos geschichtsvergesser, ein illusionärer Traum einer Zukunft inmitten blühender Landschaften: einer Friedensdividenden verzehrenden vorgeblich grenzen- und geschichtslosen Welt, der er nicht traute — trotz allen friedenspolitischen Engagements zuvor, weder vorher noch danach. Eine Illusion, bald schon verflogen, abgestürzt und untergegangen wie einst Ikarus: das ruhige Meer schäumte ohnehin nur kurz auf. Die Geschäfte gingen weiter ihren Gang, fortgeweht war nur zu bald der Traum im wieder aufflauenden Sturm dieser ungebrochen geschäftig vorangetriebenen, dieser gewaltträchtig herrschaftlich Natur unterwerfenden, dieser seit Jahrtausenden fortschreitenden, destruktiven menschlichen Geschichte. Sarajewo war seit 1992 nur eines der ersten Menetekel an der Wand, der viele weitere Inschriften vorangingen und folgten.
KontorZ wird nun zum persönlichen Archiv und Gedächtnis einer langen Reise: Ein Archiv nurmehr vor allem der Bilder im Vorübergehen (seiner ungelebten Leidenschaft seit Schülerzeiten wie der für Texte, zumal zur Poesie), auch jenes Anderen, des Frans de Lippe; und dazu noch einige Texte aufgehoben der Dokumentation wegen — und noch immer und auch weiter gelegendliche Notate vom Tag: Nichts Erfundenes. Genau sein. Kleine Dinge beobachten. Details, Punkte, so wie Ilse Aichinger es zuletzt nur noch wollte, von unter den Tagen oder danach gesammelt, #LeseFunde von oft langen Flügen in die Dämmerung, in die Nacht.
Seine ungezählten Texte aber, die ach so vielen Wörter, Worte aus Jahrzehnten eines unermüdlichen Schreibtiers im geschäftigen Auftrag und auf Anforderung zu Protokoll gegeben, bei all den Geschäften, die die Tage häufig restlos verzehrten, doch deren Resultate den letzten Zug erreichen mußten, wie einst die Bilder des Tages von der Lokalredaktion auf dem Weg zur Druckerei, auch die so vielen Fotos, die über die Jahre dabei entstanden, sie finden es hierher nun nicht mehr.

Die Projektidee KontorZ: Freiwild, es mag den Faden aufnehmen, wer will. Denn als er 70 war und war gebrechlich | drängte es den Lehrer doch nach Ruh | denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich | und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu. | Und er gürtete den Schuh. So jedenfalls erzählt die schon dem Schüler vertraute Brecht´sche Legende vom zur letzten Reise in die Berge Aufbrechendem, den die Zöllner samt seinem Knaben nicht einfach gehen ließen, weil er herausgefunden haben sollte, dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Und ihn darum nicht ohne einen Bericht über seinen Fund weiterziehen ließen; sie wollten vom ihm lesen können. Sieben Tage schrieben sie, der Lehrer und der Knabe.
So ist´s auch diesmal: Vorm Aufbruch in die Bibliothek am Meer, dazu später noch mehr, waren die Zöllnerinnen gebeten worden, auch ihm noch einen Bericht der langen Reise abzufordern, jedenfalls einige baten darum, und machmal haben sie dabei auch nach dem Anderen, dem Dahinter des Gesichts (Däubler) gefragt. Es müsse ja nicht gleich ein Buch der erfahrungsweisen Worte werden, meinten sie, die Fotos zum Beispiel, das eine oder andere von den Wörtern und Worten der anderen Texte, nicht die zum alsbaldigen Verbrauch in geschäftigen Tagesgeschäften bestimmten, die so viele Ordner füllenden, die wirklich nicht, das wäre es doch. Auch weil in den über 75 Jahren vieles wohl andersherum war, als es schien. Und weil es auch Leben war, Tag für Tag. Und weil nicht immer Zeit blieb zum Schreiben und Berichten, vor allem auch nicht zum Sprechen. Also jetzt nur noch der Reisebericht für weiter Wegbegleitende, vielleicht noch einmal Dazukommende (und die Mitreisenden auf mehr oder weniger langen Teilstrecken, nicht nur die, die sich kürzlich nochmal meldeten, zu häufig aus dem Augen, nicht aus dem Sinn geraten), der bleibt jetzt noch zu geben.
Die lebenslange Orientierung auf Fragen eines allgemeinen Zugangs zu und der Vermittlung von Wissen, einer Bildung für alle hat (s)eine Vorgeschichte: als erster in seiner engeren Familie war er aufgewachsen mit der vorgeblichen Chance, dem Angebot des gesellschaftlichen Aufstiegs, des Weiterkommens, einer selbstbestimmten Zukunft (allein) durch Bildung. Ein bis heute immer wieder wohlfeil gegebenes und ebenso nachhaltig immer wieder gescheitertes Versprechen; gegenwärtig wieder einmal mit aller Macht. Auch ihm galt dieses politische Versprechen zur Zeit der so genannt ersten Bildungskatastrophe in der Bundesrepublik der frühen sechziger Jahre; dabei in einem Haus aufwachsend praktisch ohne Bücher, jedenfalls andere als für Beruf und Glaubensfragen vorzuhaltende .… Einzig ein englischsprachiges Taschenbuch von Pearl S. Buck, wie immer ins Haus gelangt und noch immer gehegt, ist aus den fünfziger Jahren erinnerlich.
Um den Bildungsaufstieg des Sohnes (und nicht so sehr im Blick der der beiden nachfolgenden Töchter) zu unterstützen, gelangten dann in den frühern sechziger Jahren Herder´s Lexikon wie Brehms Tierleben, die Dichtung der Romantik, die Werke Goethe und Schillers, Weltkriegsgeschichten und andere enzyklopädische Werke wie die von Golo Mann und Afred Heuss herausgegebene Propyläen Weltgeschichte ins Haus, immer mehrbändig und abgespart und auf Raten abgezahlt; der boomende Tür-zu-Tür-Handel mit kanonischen Bildungswaren (Bertelsmann & Co) fand immer wieder offene Ohren bei seinem Vater. Ihm selber boten sie vielfältige Welten öffnende Lesestoffe unterm Dach, Einstieg in die wilden Lektüren seiner weiteren Jahre, bei ihm weckten sie Neugier auf andere, nicht kanonisierte Texte und Bilder, auf die er stieß, die ihn interessierten, das nimmersatte Wort- und Augentier …
Bücher und Zeitungen (spätabends auch bald das Radio im Zimmer unterm Dach, aber mehr der gemeinsamen Quizsendung von BBC und RIAS und Chris Howland aka Heinrich Pumpernickels wegen), vor allem Bücher. Sie waren nicht nur in der westfälischen Provinz zu jener Zeit noch das zentrale weil fast einzig zugängliche Wissensmedium — zu bekommen aber waren sie in der kleinen Stadt nur schwer, wenn überhaupt, und machmal auch nur auf mal krummen Wegen; sie blieben einfach bei ihm. Bücher, insbesondere andere als die auf Raten vom Vater für ihn erworbenen, wurden schon dem Schüler so zu begehrten, gehüteten Schätzen und bleiben es lebenslang.
Sein erster Antiquariatskauf erfolgte noch zu Schülerzeiten beim legendären Büchersuchdienst Pinkus in Zürich, von dem ihm irgendwie in Westfalen Kunde erreicht hatte. Der ist ebenso wie das daraus entstandene Antiquariat zuletzt im Zangengriff von Internettransparenz und Immobilienverwertungsinteressen vom Markt verschwunden; nicht aber von seiner Wand hinterm Schreitsch das große Fotoportrait von Theodor Pinkus, ausgeschnitten aus einer Tageszeitung, als diese noch fast halbseitige Fotos brachten, und das seit Jahrzehnten, längst vergilbt, dort hängt. [!FOTO!]
Weitere Bücher gelangten früh zu ihm durch die Schülerzeitung mit freizügigen Rezensionsangeboten wie denen des neuen dtv-Verlags; andere wie Horkheimers Zur Kritik der Instrumentellen Vernunft dadurch, dass der Chef der politischen Redaktion es dem jungen Voluntär beim Start in ein Berufsleben im Journalismus zur Rezension (aber nicht mehr als 60 Zeilen) auf den Schreibtisch legte. Viele mehr kamen dazu beim Studium zur künftigen Selbstermächtigung in diesem Beruf (es kam auch diesmal andersherum); und bis heute bei all seinen späteren Tätigkeiten in diversen Handlungsfeldern.
Seine Schulzeit, das war die Zeit noch Lichtjahre vor dem Internet; das Fernsehen sendete schwarzweiß, gelangte erst zu den Olympischen Spielen 1964 in Tokio überhaupt ins Haus. Lokomotiven fuhren noch unter Dampf. Und doch: Befähigende, ermächtigende Bildungserfahrungen zu verantwortlicher, verantworteter Handlungsfähigkeit, auch die gab es bereits in der Schule mitten in der Provinz, auch auf dem flachen Lande zu Zeiten der ersten Bildungskatastrophe. Subversive Flaschenposten.
So das schmale Insel-Bändchen seines Deutschlehrers mit den nachgelassenen Gedichten von Georg Heym und Holzschnitten von Ernst Ludwig Kirchner, Umbra vitae, ihm verblieben über dessen frühen kriegsfolgenbedingten Tod hinaus. Ihm verdankte er auch den Zugang zu George Grosz samt dessen Christus mit der Gasmaske für den Abdruck in der Schülerzeitung; und der Mitarbeit in der Schülerzeitung durch dessen Nachfolger auch die Teilnahme an einem der ersten Seminare des gerade gegründeten Deutschen-Französischen Jugendwerks in Paris: Europa. Der Traum von Paris. In den wenigen freien Stunden, im Vorübergehen, Montmartre, Rilkes Panther im Jardin des Plantes gesucht: Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe | so müd geworden, dass er nichts mehr hält. | Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe | und hinter tausend Stäben keine Welt. Ein neuer Taschenbuchverlag öffnete dem Schülerzeitungsredakteur weltweit die Tore zum Museum der modernen Poesie. Und im mündlichen Abitur 1966 wurde ihm von seinem Deutschlehrer Walter Höllerers Gedicht Der lag besonders mühelos am Rand zur Interpretation aufgegeben; erster Leiter des 1963 gegründeten Literarischen Colloquiums Berlin. Der Sohn, zu Hause in einer Bibliothek, wie er früh in der Schule sein Zuhause beschrieb, baute als Informatiker Jahrzehnte später für das LCB einen Literaturport mit auf und betreute ihn von 2005 bis 2018: einen virtuellen, weltoffenen Hafen für Wörter und Worte (und auch Bilder). Die Flaschenposten seiner Schulzeit.. wozu auch spätestens ab 1962 die in der Schule vorm Lehrerzimmer zur freien Mitnahme ausliegenden Exemplare der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” gehörten. wirkten nach, zeitigten Folgen.
Eine persönliche Bibliothek schien schon dem Aufwachsenden, in seinem Zimmer unterm Dach mit Blick über weite, heute längst zugebaute Felder, auf überm flachen Land dahin treibende, jagende Wolken, die Fenster zur Welt aufzustoßen, Räume für Zukunft zu öffnen. Denn in diesen Vor-Boomer-Zeiten waren auf dem Gymnasium noch die in der Minderheit, die wie er aus Haushalten ohne Bibliothek stammten; es war noch nicht so, als wie es der Soziologe Heinz Bude kürzlich für seine nachfolgende Boomer-Generation beschrieb. Ihn machte es dort als nicht wirklich zugehörig kenntlich, zumindest glaubte er es, und er hatte gute Gründe. Vielen wurde und war er brauchbar, in Schule und Universität, Bindungen wuchsen dort daraus nicht, er gehörte dort nicht dazu, wohin Bildung ihn brachte. Doch Bücher konnten sie ihm nicht verwehren, lesend, schauend unterm Dach, sie wurden ihm jedenfalls zur lebenslangen Obsession, und das nicht nur als vermeintliche Garanten eines schnell enttäuschten politischen Versprechens auf Zukunft durch Bildung, durch Leistung, auf Aufstieg und gleiche Teilhabe, sometime, somewhere. Sie öffneten jedoch dem Anderen Fenster zur Welt, machten den Blick für Zukünftiges frei, hielten ihn neugierig auf Menschen und ihre Welten, bis heute.

Vielleicht treffen wir uns zur Frühlingszeit mal im Vorübergehen im Antiquariat und Café Morgenstern der Büchersammelnden vom SinneWerk, links zwei Häuser vom Balkon entfernt meines ersten Zimmers in Steglitz 1968 (der unten, er sah sehr anders aus, kriegsversehrt, nicht bewohnbar); beim Bäcker gegenüber gab´s frühmorgens auch schon vor der Zeit frische Brötchen nach nächtlichem Bade-Ausflug zur Krummen Lanke. Oder im Café der Schwartz´schen Villa jenseits der S‑Bahn und im Park auf Baumstümpfen nochmal nach Nazim Hikmets Versen suchend: “En guzel gunlerimiz: henuz yasamadiklarimiz. Unsere schönsten Tage: es sind die noch nicht gelebten.”
Aber die Zuversicht, dass die von Anbeginn gewaltträchtige menschliche Geschichte wie ein böser Traum im Morgenlicht eines neuen Tages einfach vergehen könnte, die hat(te) er längst nicht mehr und heute weniger denn je: hat er doch auf seiner langen Reise zu viel Wissen gesammelt über die Destruktivkäfte dieser unserer Welt(en), nicht nur über Mininucs und Neutronenwaffen, den vorgeblich kriegstauglicheren Varianten von Atomwaffen, über grausame Waffen und noch anderes: Weitere Aussichten: Kriege weltweit.
Die Zerstörung der Nationalbibliothek in Sarajevo 1992 war schon ihrerzeit nur ein Menetekel mehr, die zerstörten Bibliotheken in der Ukraine, Syrien und anderswo in der Welt zeichnen weitere auf die Wand in dieser endlosen Geschichte von Krieg und Gewalt, der Zerstörung des Wissens über Menschen, ihre Welt(en), Natur und Leben, und der Erinnerung an die Kämpfe, den Widerstand dagegen. Die Frage nach einem allgemeinen unbeschränkten, einem diversitätsoffenen Zugang zu Wissen, zur Wissenschaft für alle, sie also bleibt. Birgt doch Bildung die letzte Hoffnung darauf, Menschen auch in dunklen Zeiten wie diesen zu verantwortlichem Handeln befähigen und ermächtigen zu können: Teilhabe(n) in ihrem wohlverstandenen eigenen Interesse, ihrem gemeinsamen. Handelnd: Den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit suchen, unermüdlich wie einst Sisyphos, der angeblich der glücklichste Mensch gewesen sein soll, weil seine Aufgabe nie zu Ende ging. Die uneingelöste Aufgabe der Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung. Trotz alledem.
Texte im (Foto)Blog also sollen es nun hier werden, Details.Punkte. angelegt als Reisebericht rund um mein letztes Projekt KontorZ, mein erfolgreich für mich gescheitertes. In Berlin zu notieren begonnen am 1. Januar 2024, seitdem auf der Werkbank liegend, obwohl noch nicht fertig doch gleichwohl laufend für den Zoll freigesetzt, weil notwendig nach dieser schon zu langen Reise unklar ist, ob meine Zeit noch reicht. Und noch immer haben die Zöllner:innen, ja, es haben sich zuletzt auch Zöllnerinnen ihnen zugesellt, mir die Weiterreise zur Bibliothek am Meer nicht freigeben wollen. Sie zweifeln, der Winter war wieder sehr warm gewesen wie schon die letzten Sommer, ob die Sache mit dem weichen Wasser und dem mächtigen Stein wirklich eine Lösung ist, ob die Zeit, die dafür notwendig wäre, ob sie der Welt reichen würde.
Zeitenwende(n). Wendezeit(en). Und jeden Morgen, wenn die Antwort gefunden schien, löste einer von ihnen die Schnur der aufgerollten Leinwand: und sichtbar wurde der Blaue Mann auf der Bank, der so sehr zweifelte. Nachdenklich betrachteten sie mit Neugier den zweifelnden Blauen Mann auf der Leinwand, sahen sich an und begannen von vorne. So bleibe ich denn noch hier, Tag für Tag weniger zuversichtlich, weiter hoffend (aber nicht wissend), dass (und ob) nicht alles im Rauch dieser noch immer elenden Zeitläufte out of joint aufgeht, die sich Geschichte nennen.
Längst vergilbt ist die Abschrift von Brecht´s Der Zweifler auf der Bilderwand hinter meinem alten Schreibtisch, seit Jahrzehnten dort hängend. Nun wird sie mit ans Meer gehen, falls die Zöllner:innen den Weg doch noch freigeben … Ich werde sie im letzten Moment einpacken.

Vor Usedom, im Vorübergehen, gesehen am 13. November 2004

Bei Boltenhagen, im Vorübergehen, gesehen am 02. März 2024

Bilder im Vorübergehen
und der Anfang und das Ende der Geschichte, wie der Maler Sakumat eine Welt für Madura malte.
Frans de Lippe´s Bilderhefte — Nr. 6
Berlin 2010
“Ein paar Tage später verließ der Maler auf eigenen Wunsch mit dem jungen Pferd den Palast und das Dorf. Am Eingang des Tals, bevor Nactumal aus seinen Augen verschwand, hielt Sakumat das Pferd an, machte aus ein paar dürren Zweigen einen Haufen, legte die Kiste darauf, die seine Pinsel enthielt und entfachte ein Feuer. Er setzte sich davor und schaute zu, wie der Rauch des Holzes sich zwischen den grau schimmernden Felsen verlor und die Flämmchen des kleinen Scheiterhaufens lebhaft in ungewöhnlichen Färbungen aufflackerten. Als alles zu Asche geworden war, blickte Sakumat ein letztes Mal auf Nactumal und bestieg wieder sein Pferd.”
“Als er zwei Tage später in Malatya ankam, erkannten sie ihn kaum. Viele fragten, was ihn so lange ferngehalten habe. Allen antwortete Sakumant, dass es eine langwierige Arbeit gewesen sei, und nicht mehr.
Als sich die Nachricht von seiner Rückkehr verbreitet hatte, begann man wieder, an seine Tür zu klopfen und ihn zu fragen, ob er Jagd- und Badeszenen, Blumen und Vögel malen könnte. Nachdem er dem Zehnten, der gekommen war, Nein gesagt und sich zum zehnten Mal geweigert hatte, den Grund dafür zu sagen, verkaufte Sakumat sein Haus und verabschiedete sich für immer von seinen Freunden.”
“… weit weg, am Rande eines kleinen Dorfes, das zwischen elefantengroßen Felsen verstreut lag, kaufte er ein Häuschen. Es sah aus wie ein Fels zwischen den anderen und stand ganz nahe am Strand. Dort hörte man das ununterbrochene Rauschen der Wellen, das gleichzeitig war wie eine ewige Stille. Er lernte die Bewohner des Dorfes kennen, und manch einer wurde sein Freund, mit dem er dann Tee trank, kochte, und in aller Ruhe die Dinge der Gegenwart besprach. Er lebte noch lange in Frieden als Fischer.“
Piumini, Roberto (*1947): Eine Welt für Madurer. (Lo stralisco.)
München und Wien, Hanser 1999, 100ff
“Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Walter Benjamin (*1892): Über den Begriff der Geschichte, 1940
- 1Ein ihm eindrückliches Beispiel dafür war Galtungs umfangreiche Kritik an Stil und Organisation des Wissenschaftskollegs zu Berlin, dessen Fellow Galtung 1982/1983 in zweiten Jahr war: pdf hier.