Eva Melandri oder die Suche nach dem Vater

Mein Vater war in den dreis­si­ger und frü­hen vier­zi­ger Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts, nach sei­nem fran­zö­si­schen Leh­rer­ex­amen in Lyon, im Ita­li­en Mus­so­li­nis in Turin Grund­schul­leh­rer an der Inter­na­tio­na­len Schu­le der Mari­nis­ten in Turn, als Lai­en­bru­der des im 19. Jahr­hun­dert gegrün­de­ten katho­li­schen Schul- und Mis­si­ons­or­dens. Er wur­de 1942 zu Deut­schen Wehr­macht ein­ge­zo­gen und kehr­te 1945 nach kur­zer bri­ti­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft nicht wie­der in den Orden zurück, wie übri­gens vie­le ande­re aus Deutsch­land stam­men­de Mari­nis­ten. Statt­des­sen ging er zurück nach sei­nem Geburts­ort in West­fa­len, wohl mei­ner Mut­ter wegen. Sie war Haus­magd auf einem Guts­hof in Sicht­wei­te des Kot­tens mei­ner Groß­el­tern, auf dem mein Vater gebo­ren war. Bei­de hei­ra­te­ten 1946. Er wur­de wie­der Volks­schul­leh­rer, nun auf dem fla­chen Land in der klei­nen Stadt in West­fa­len, weni­ge Kilo­me­ter ent­fernt von dort, wo er 1912 gebo­ren war, an der Chaus­see von Köln nach Min­den, wo frü­her die Pfer­de gewech­selt wur­den …

Über sei­ne Jah­re in Ita­li­en hat er fast nie gespro­chen, wenn über­haupt, dann nur andeu­tend anek­do­tisch. Alles was ich über die­se sei­ne Jah­re in Ita­li­en weiß, habe ich erst nach sei­nem Tod 1989 erfah­ren.

Wer war mein Vater? Er blieb und ist mir ein Rät­sel. Als ich ihn in den frü­hen sech­zi­ger Jah­ren in einer kon­kre­ten Situa­ti­on um Rat und Unter­stüt­zung bat, block­te er ab, ganz im Gegen­satz zu den Grund­sät­zen der Mari­nis­ten, denen er sich ver­pflich­tet hat­te: “Du bist alt genug und mußt sel­ber wis­sen, was Du tust.” ant­wor­te­te er dem knapp Vier­zehn­jäh­ri­gen. Er ließ ihn ein­fach gehen, allein. Denn er war ent­täuscht, dass sein Sohn sich dem Wunsch des Vaters ver­wei­ger­te, katho­li­scher Pries­ter zu wer­den. Gleich­wohl: Sei­nen recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen kam er nach, den finan­zi­el­len, gegen­über dem Erst­ge­bo­re­nen, er unter­stütz­te ihn bis zum Stu­di­en­ab­schluss, nicht hin­rei­chend, aber … “…” notier­te er in sei­nem Tes­ta­ment, pflicht­be­wußt, kalt, recht­fer­ti­gend.