Nachrichten für Dokumentation. 1987
Probleme mit politisch geprägten Benennungen von Begriffen bei der Erstellung eines politikwissenschaftlichen Thesaurus
“Und wenns euch Ernst ist, was zu sagen,
ists nötig, Worten nachzujagen?“
Goethe (1801)
“Die Begriffe der Herrschenden sind allemal die Spiegel gewesen,
dank deren das Bild einer ´Ordnung´ zustande kam.“
Benjamin (1939/40)
Im Gegensatz zu den Natur- und den Ingenieurwissenschaften finden sich in den Gesellschafts- oder Sozialwissenschaften eine Vielzahl von politisch geprägten Benennungen. Zum einen stehen sie für denselben Begriff oder eng verwandte Begriffe, zum anderen werden dieselben Benennungen für unterschiedliche Begriffe benutzt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einfache Synonyme oder Polyseme, die grundsätzlich in einem dialogischen Vorgang durch Prozesse der begrifflichen Kontrolle und der Sprachnormung einvernehmlich in eine eindeutige Zuordnung von Begriffen und Benennungen überführt werden können.
Denn die Benennungen sind nicht nur das Ergebnis mangelnder Genauigkeit bei der Suche nach der zutreffenden sprachlichen Darstellung eines Begriffes. Sie sind auch die Folge mehr oder weniger gezielt verfolgter politischer Spracharbeit1 außerhalb des Dokumentationsprozesses, die sich nicht selten in Dokumentationsprachen wie etwa einem Thesaurus unbedacht wiederspiegelt: Welcher Begriff in der internationalen Politik zum Beispiel angemessen durch die Benennung “Sicherheitspartnerschaft” dargestellt wird, ist nicht nur in dem Sinne strittig, daß die Benennung in einigen Dokumenten (DBE) ausschließlich zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen verbündeten Staaten mit gleicher Gesellschaftsordnung, in anderen DBE auch des anzustrebenden Verhältnisses zwischen gesellschaftlich unterschiedlich organisierten Staaten benutzt wird. Es gibt darüberhinaus die massiv in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion vorgetragene Auffassung, daß die zweite Verwendungsweise aus politischen Grunden grundsätzlich unzulässig sei.
In den Benennungen von Begriffen, im Sprachgebrauch also, drücken sich in den Sozialwissenschaften häufig politische Interessen, gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse aus, die innerhalb des Dokumentationsprozesses verarbeitet werden müssen: Ob, um ein weiteres Beispiel anzuführen, eine Politik, die militärische Gewalt zu ihren legitimen Mitteln zählt, in einem Thesaurus sinnvoll als “Militärpolitik”, als “Verteidigungspolitik”, als Rüstungspolitik”, als “Wehrpolitik”, als “Sicherheitspolitik” oder als “militaristische Aggressionspolitik” spraohlich auf den Begriff gebracht werden kann und gebracht worden ist, hängt vom politischen und/oder theoretischen Standpunkt sowie vom Informationsinteresse des Dokumentierenden — und auch des späteren Benutzers ab.
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- Der klassische literarische Beleg für derartige Spracharbeit ist Orwells “1984”, aber der Vorgang ist alltäglicher (und in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Wandel der klassischen Öffentlichkeitsarbeit zur Offentlichkeitspolitik politisch brisanter geworden,. als der er entlang den alten Scheidelinien gefaßt werden kennte; vgl. u.a. Edelman 1976, Henkelmann/Nahr 1978. ↩︎
Der Text erschien unter dem Titel “Probleme mit politisch geprägten Benennungen von Begriffen bei der Erstellung eines politikwissenschaftlichen Thesarus” in den Nachrichten für Dokumentation, (4)1987 und in dieser Textfassung in der Reihe der Arbeitspapiere der Berghof-Stiftung für Konfliktforschung, (29)1987